WANN: “Europäischer Salon“, Am Donnerstag, den 13. April 2023, um 18:30 Uhr
WO: vorwärts: buchhandlung + antiquariat, Stresemannstraße 28, 10963 Berlin
Am 13. April 2023 fand unser „Europäischer Salon“ in der vorwärts: Buchhandlung in Berlin mit Prof. Dr. Claudia Weber, Historikerin, Anastasia Tikhomirova, freie Journalistin und Hendrik Küpper, Redakteur der perspektiven ds, unter der Moderation von Laura Clarissa Loew im Rahmen unseres Projektes “Transformation der Erinnerung – Transformation der Aufarbeitung” statt.
Die Veranstaltung fand unter dem Titel «Lernprozess durch Perspektivenwechsel/Perpsktivwechsel Osteuropa» statt und wurde als gemeinsames Projekt der «Jungen Perspektiven», die Teil der «perspektivends- Zeitschrift für Gesellschaftsanalyse und Reformpolitik» sind und der Willi-Eichler-Akademie konzipiert.
Der Salon hatte sich einen Perspektivwechsel in Bezug auf Osteuropa zum Thema gesetzt, würde der Begriff «Osteuropa» in seiner aktuellen Verwendung der Vielfältigkeit und Uneinheitlichkeit der Region doch nicht gerecht. Die Diskussion war von den Ereignissen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine geprägt. Die osteuropäische Perspektive, die im deutschen Diskurs eher weniger Berücksichtigung findet, wurde im Europäischen Salon hervorgehoben.
Auf dem Podium saßen nach einer Begrüßung durch Stefan Stader, dem Berliner Büroleiter der Willi-Eichler-Akademie und Hendrik Küpper, Redakteur der «Jungen Perspektiven», die Teil der «perspektivends- Zeitschrift für Gesellschaftsanalyse und Reformpolitik» sind, drei Frauen aus unterschiedlichen Bereichen, mit unterschiedlichen Erfahrungen; es einte sie das Interesse und ihre ausgewiesene Expertise rund um Osteuropa.
«Osteuropa» als ein historisches Konstrukt
Anastasia Tikhomirova leitete in das Thema ein und erklärte, dass der Begriff «Osteuropa» ein historisches Konstrukt sei, dessen geografische Grenzen nicht final festgelegt wären. Historikerin Weber bestätigt die These, Osteuropa sei ein historisches Konstrukt und führte weiter aus, wer dem Konstrukt «Osteuropa» zugeordnet werde. Mit der Entstehung der ersten Lehrstühle für osteuropäische Geschichte Anfang des 20. Jahrhunderts sei Osteuropa im fachlich-wissenschaftlichen Diskurs primär mit dem russischen Raum assoziiert worden. Polen, Ukraine und Ungarn gehörten demnach zu Mittelosteuropa und der Balkan wäre Südosteuropa. Die aktuelle Diskussion um Osteuropa, wer sich dem Raum zugehörig fühlt und wer sich davon eher abgrenzt, ist aktuell vom russischen Angriffskrieg auf die Ukraine geprägt, so wie auch die gesamte Diskussion an diesem Abend.
Die drei ausgewiesenen Expertinnen widmeten sich zu Beginn der Diskussion der Frage um die deutsche Mitverantwortung am russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Kritisiert wurde vor allem die Idee des Wandels durch Handel.
Zu Beginn der Diskussion zitierte die Moderatorin den britischen Journalisten Peter Pomerantsev, der im Interview mit der polnischen «Gazeta Wyborcza» verlautbaren ließ, dass Deutschland nach Russland die größte Verantwortung für den aktuellen Krieg in der Ukraine trage.
Diesen Vorwurf der zweitgrößten Mitverantwortung am russischen Angriffskrieg unterfütterten die Panelistinnen mit Gründen und Zeitpunkten, an denen Deutschland die Perspektiven der mittelosteuropäischen Länder ignoriert hatte. Anastasia Tikhomirova kritisierte die westliche Politik in Bezug auf ihre Russland in verschiedenen Punkten, insbesondere auch den Bau der Nord Stream 2 Pipeline als einen Schlüsselpunkt, der die wirtschaftliche und strategische Co-Abhängigkeit von Russland untermauert hätte..
Weber sieht die Verantwortung historisch sogar noch weiter in der Vergangenheit verwurzelt und bezeichnet das europäische Verhalten in Bezug auf die Ukraine als «klassisches Großmachtverhalten». Sie beobachte ein «Großmachtdenken» des Westens bis heute.
Die Panelistinnen diskutierten zudem die Reaktion der politischen Linken auf den Angriffskrieg. Sie kritisierten die Gruppierung, die sich um Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer gebildet hat und die einen vereinfachten «Antiimperialismus» vertreten, den man in linken Kreisen aktuell öfter beobachtet. Dass dies ein spezifisch deutsches Phänomen in den linken Bewegungen sei, verneinte Anastasia Tikhomirova jedoch und weitete es auf ein allgemein westliches Phänomen aus. Sie sprach davon, dass es dagegen in der osteuropäischen Linken durchaus ein Bewusstsein dafür gebe, das Imperialismus nicht nur ein westliches Phänomen sei, sondern auch von ihrem großen Nachbarn, Russland, ausgehen kann. Das aggressiv imperiale Verhalten der Sowjetunion habe den Mittel- und Osteuropäischen Staaten einen historischen Stempel aufgedrückt.in manchen westlichen linken Kreisen herrschenden Russlandfreundlichkeit zieht sie die britisch-syrische Autorin Leila Al-Shami mit ihrem Begriff des «Anti-Imperialismus der Idioten» heran und kritisiert eine «Anti-Kriegshaltung», die eine ausschließliche NATO-Schuld am Angriffskrieg sehe. Tikhomirova merkt an, dass die Perspektive der Betroffenen, der Minderheiten, keiner Beachtung geschenkt und übergangen würde. Innerhalb der deutschen Linken vermisse sie eine differenzierte Auseinandersetzung mit Verteidigungs- und Angriffskriegen.
Zum Umgang mit russischen Künstler*innen und Wissenschaftler*innen – Kultur und Moral
In der Frage, wie man mit russischem Kulturgut weiterhin umgehen soll, waren sich die Diskutantinnen mehrheitlich einig. Historikerin Weber plädierte dafür, im Hochschulkontext weiterhin russische Schriftsteller*innen zu lehren und die deutsch-russische Beziehungshistorie bis 1945 in Seminaren mit ihren Studierenden zu diskutieren. Weber fügt an, dass sie, auch aus aktuellem Anlass, vermehrt Lehrveranstaltung mit direktem Bezug zum Krieg halte.
Ähnlich blickte Tikhomirova auf das Thema. Wenn russische Künstler*innen allerdings westliche Bühnen bespielen und den Raum erhielten, sich zu präsentieren, dann müsste man von ihnen auch eine Positionierung gegen den Krieg erwarten können.
Oppositionelle vor Ort
Gleichzeitig sprach Tikhomirova die russischen Oppositionellen vor Ort an, die aufgrund der Repression Angst hätten, sich kritisch zu äußern. Den Menschen vor Ort vorzuwerfen, dass sie sich nicht öffentlich gegen das Regime auflehnen, sah sie kritisch. Die Lebensrealität der kritischen Russinnen und Russen in einem diktatorischen Regime dürfe nicht außer Acht gelassen werden. Menschliches Leid dürfe nicht gegeneinander ausgespielt werden. Tikhomirova ehrte jedoch das tägliche Engagement der Oppositionellen, das nicht vollumfänglich in Deutschland medial präsent sei. Sie forderte von Deutschland auch russischen Oppositionellen und russischen Dissident*innen und Deserteur*innen, hier im Land mehr Schutz zu gewähren.
Nationskonzept auf der Kippe?
Zum Ende der Podiumsdiskussion nahm Moderatorin Loew die Ausgangsfrage nach der Perspektive auf Osteuropa erneut auf und fragte nach dem aktuell vermehrt aufkommenden Begriff des «Post-Ost».
Die Selbstbezeichnung «Post-Ost» entspringe dem aktivistischen Kontext. Menschen mit osteuropäischen Migrationshintergrund oder osteuropäischen Wurzeln, die sich einer breiten linken Szene zugehörig fühlen, nutzen ihn seit einigen Jahren als Selbstbezeichnung. Sie soll den Begriffen wie «Ostblock» oder «postsowjetisch» entgegenwirken. Die Selbstbezeichnung «post-ost» solle deutlich abbilden, dass Osteuropäer*innen nicht alle gleich seien, aber trotzdem ähnliche Erfahrungen wie zum Beispiel erlebt haben. «Post-Ost» werde nicht von nationalen Grenzen bestimmt, sondern bilde die osteuropäische Vielfalt ab. Die russischstämmige Tikhomirova nutze die Selbstbezeichnung selbst und lobte diese begriffliche Entwicklung.
Es gab aber zum Abschluss nicht nur Ausblicke auf vereinende Entwicklungen. Historikerin Weber wies auch auf einen «Rückgang des Transnationalismus» hin. Sie betonte, dass dieser Rückgang in Bezug auf osteuropäische Staaten als «Emanzipationsbewegung» verstanden werden könne. Weber erläuterte, dass die Hoffnung auf einen Nationalstaat Ländern aus dem ehemaligen sowjetischen Einflussbereich nicht zum Vorwurf gemacht werden könne. Die Bildung einer Nation sei für sie in diesem Kontext als ein Akt der Befreiung zu verstehen, der jedoch kritisch zu begleiten sei.
Das gesamte Gespräch der drei Frauen durchzog die Frage «Werden wir unseren (ost-)europäischen Nachbar*innen im Hinblick auf deren historische Erfahrungen und politischen Notwendigkeiten gerecht?». Auch wenn diese Frage nach einer knapp zweistündigen Veranstaltung keine finale Antwort finden kann, lässt sich durchaus festhalten, dass es in der Frage um Osteuropa einen Lernprozess durch Perspektiveneinnahme braucht und die Suche nach einer ultimativen Wahrheit in eine Sackgasse führen würde.
Bericht von Madita Lachetta
Bilder: Marco Urban, marco-urban.de
Europäischer Salon am 13. April 2023, um 18:30 Uhr mit:
Freie Journalistin, u.a. für Zeit Online, taz und Jungle World, Kulturwissenschaftlerin und Moderatorin. Sie ist Alumna des Marion-Gräfin-Dönhoff Stipendiums der Internationalen Journalistenprogramme 2021, welches sie bei der Novaya Gazeta in Moskau absolvierte. Außerdem macht sie ihren Master in Osteuropastudien und interdisziplinärer Antisemitismusforschung in Berlin.
Foto Copyright: Mia Alvizuri Sommerfeld
Prof. Dr. Claudia Weber
Historikerin, seit 2014 lehrt sie als Professorin für Europäische Zeitgeschichte an der Europa-Universität Viadrina. Sie leitet das Projekt Zeitlandschaften. Transnationale Vergangenheitsdiskurse und Zukunftsentwürfe am Ende des Kalten Krieges und seit September 2015 Vizepräsidentin für Forschung und wissenschaftlichen Nachwuchs. Webers Forschungsschwerpunkte sind unter anderen die Gewalt- und Diktaturengeschichte des 20. Jahrhunderts.
Hendrik Küpper
Er studierte Politische Bildung und Philosophie/Ethik an der FU Berlin. Er war von 2017 bis August 2019 Landeskoordinator der Berliner Juso-Hochschulgruppen, ist Vorstandsmitglied der Hochschulinitiative Demokratischer Sozialismus e.V. sowie Redakteur der perspektiven ds – Zeitschrift für Gesellschaftsanalyse und Reformpolitik.
Laura Clarissa Loew
Sie studiert im Master Geschichte mit Schwerpunkt Osteuropa an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Sie ist Co-Redakteurin der “Jungen Perspektiven” der perspektiven ds – Zeitschrift für Gesellschaftsanalyse und Reformpolitik und von 2019-2021 war sie Mitglied im Bundesvorstand der Juso-Hochschulgruppen.
Fotos: Privat.
Eine Veranstaltung der Willi-Eichler-Akademie e.V.