„Europäischer Salon“, 2. Mai 2023, 18:30 Uhr
Ort: vorwärts: buchhandlung + antiquariat, Stresemannstraße 28, 10963 Berlin


Was Europa kann. Die Vision des Erasmus von Rotterdam (1538-1600)

Am 2. Mai 2023 stellte im „Europäischen Salon“ in der vorwärts: Buchhandlung in Berlin im Rahmen unseres Projektes “Transformation der Erinnerung – Transformation der Aufarbeitung” die italienische Historikerin und Professorin Lucia Felici ihr Buch über die Stipendiaten-Stiftung des großen Humanisten Erasmus von Rotterdam vor. Politische und konfessionelle Grenzen überwinden und eine neue europäische Gemeinschaft bilden: Dies war das Ziel des Erasmus von Rotterdam. Das jetzt übersetzte und in Italien viel diskutierte Buch „Was Europa kann. Die Vision des Erasmus von Rotterdam (1538-1600)” zeigt, wie die Erasmus-Stiftung mit ihrer transnationalen und multikonfessionellen Bestimmung einzigartig war: ein kosmopolitisches Modell, das zur Festigung einer neuen gesellschaftlichen Ethik beitrug und auf das noch heute zurückgegriffen werden kann, um Werte wie Solidarität, Kultur und Gastfreundschaft zu bekräftigen. Die Abhandlung über ein Europa ohne Grenzen im Sinn von Erasmus vermag Argumente zu liefern gegen immer neu aufflammende nationalistische, religiöse und fanatische Tendenzen, die den friedlichen europäischen Raum bedrohen. 

Unterstützt und übersetzt wurde Lucia Felici durch den Soziologen und Philosophen Prof. Gregor Fitzi, dessen Zuspitzungen das Wirken von Erasmus für das deutsche Publikum lebendig werden ließen.

Was Europa kann. Die Vision des Erasmus von Rotterdam (1538-1600)

Nach einer Begrüßung durch Stefan Stader als Gastgeber hob Dr. Klaus-Jürgen Scherer von der Hochschulinitiative Demokratischer Sozialismus e.V. in seiner Anmoderation hervor, dass es ein Motiv auch für den Schüren Verlag in Marburg war, dieses Buch in Deutschland zu publizieren, weil es „uns ärgert, dass die AfD seinen Namen missbraucht für ihre DER-Stiftung, ihr geht es darum, ein gigantisches rechtes Netzwerk mit Steuergeldern aufzubauen“.

In diesem Sinne verfasste auch der bekannte Politikwissenschaftler und AfD-Experte Prof. Wolfgang Schroeder sein Vorwort zur deutschen Ausgabe. Scherer betonte, dass neben diesem politischen Motiv aber auch im Mittelpunkt stand, den in Deutschland zu einseitigen Blick auf Luther zu weiten und zu zeigen, wie bereits in der Reformationszeit früh ganz im Gegensatz zum autoritären Nationalismus europäisches, kosmopolitisches, tolerantes, demokratisches und soziales Denken vor der eigentlichen Aufklärung Wurzeln hatte. 

Lucia Felici betonte in ihren Ausführungen, u.a. dass es in der italienischen Fassung im Titel „ohne Grenzen“ heißt: „Diese utopische Vorstellungen von Erasmus, dass man ein ganz anderes Zusammenleben der unterschiedlichen Völker in Europa und der unterschiedlichen Religionen entwickeln kann – hier historisch rekonstruiert anhand der Quellen, die in Basel im Archiv immer noch zu finden sind, und die die Art und Weise zeigen, wie die Stiftung diese Utopie versucht hat zu realisieren“.

Es ging in den Worten von Lucia Felici darum, „in einem damals sehr stark gespaltenen Europa, wo es Religionskriege gab und Trennungen zwischen Konfessionen, einen Ort zu schaffen, an dem man sich an anderen Idealen orientierte. Es geht um ein soziales Experiment, das bis zu tausende Menschen erfasste: Studierende, auch etablierte Gelehrte und viele Migranten und Intellektuelle, die fliehen mussten aus anderen Gebieten Europas, wo sie wegen ihrer Ideale und Orientierungen verfolgt wurden. Die Zielsetzung der Stiftung, war eine gemäß den Gedanken von Erasmus andere Vorstellung eines möglichen Zusammenleben jenseits von nationalen und professionellen Grenzen. Es ging darum, eine andere Idee von Europa in der Praxis wirklich zu realisieren. Und dafür war diese Stiftung da, in die das ganze Geld von Erasmus nach seinem Tod hineingegangen ist“.

Diskutiert wurde im folgenden en detail, wie denn diese Wertorientierung, diese embryonale Idee von Europa aussah? Wie dieser Nukleus, dieser Anfang einer weiteren Geschichte, die dann über die Aufklärung bis zu den Idealen der heutigen europäischen Union führt, sich eigentlich darstellte?

Dabei zeige die historische Erasmus Stiftung uns auch, „dass dort gerade Frauen und Männer unterstützt wurden, die mittellos waren, und dass jemand, der mittellos war, vorgezogen wurde – und das ist eine Art Botschaft, auch heute müssten sich Regierungen viel stärker engagieren in der Unterstützung von mittellosen Menschen. Bildungspolitik hat auch eine Klassenkategorie, es geht um die Verfügung der Mittel. Bildung wieder zu einem zugänglichen Öffentlichen Gut für alle zu machen, auch dies eine Botschaft von Erasmus“.

Natürlich muss man Erasmus auch historisieren, „er hat in seiner Zeit natürlich die Grenzen von Europa als die Grenzen des christlichen Europas gedacht, etwa Russland war damals ziemlich weit weg von diesem Horizont“. Doch, so Lucia Felici, „aufgrund der Art und Weise, wie er das alles gedacht hat, hat er ein Fundament gelegt, auf dem dann später andere Denker, vor allem in den Niederlanden, wie eben Baruch de Spinoza und andere, aufbauen konnten.“ Die Erasmus Stiftung habe sogar Stipendien für Menschen zur Verfügung gestellt, die islamische Religion waren, und auch im für Menschen, die im Zuge der Kolonialisierung kamen.

In der Debatte ging es natürlich vertiefend auch um Gegenwartsfragen, etwa um die neue italienische Rechtsregierung, um die angesichts von Ungarn und Polen schwierige Lage der EU, darum was man an Toleranz und Vielfalt lernen kann von Erasmus sogar mit Bezug auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Auch wurde seine frühe, zur damaligen Zeit wirklich ungewöhnliche, Frauenförderung besonders hervorgehoben.

Schließlich kam es zum Fazit, dass die Bedeutung unterstrichen wurde, unser europäisches Geschichtsverständnis nicht mit der Industrialisierung beginnen zu lassen. Scherer meinte in seinem Schlusswort gar, die emanzipatorische Vorgeschichte der Arbeiterbewegung sei demgegenüber weitgehend in Vergessenheit geraten, im Geschichtsforum der SPD fehle jedenfalls ein Experte für das 16. Und 17. Jahrhundert. Kurzum: Die Vorgeschichte der Aufklärung sollte in der Rekonstruktion der europäischen sozialer und liberaler Ideen eine stärkere Rolle spielen. Dazu war dieser Abend ein wunderbarer Auftakt.

Bilder: Marco Urban, marco-urban.de

Europäischer Salon mit:

Lucia Felici

Lucia Felici
Professorin für moderne Geschichte an der Universität Florenz. Von ihr sind bereits zahlreiche Werke über die Geschichte der Reformation und deren Toleranz erschienen. Ihr in Italien viel beachtetes Buch über Erasmus erschien jüngst auf Deutsch im Schüren Verlag (Marburg).

Gregor Fitzi

Dr.habil. Gregor Fitzi
Soziologe und Philosoph, assoziierter Forscher am „Centre Georg Simmel“, École des Hautes Etudes en Sciences Sociales, Paris.

Klaus-Jürgen Scherer
Dr.phil. Klaus-Jürgen Scherer
Politikwissenschaftler und Redakteur.

Eine Veranstaltung der Willi-Eichler-Akademie e.V.

europa impulse Projekt von Willi-Eichler-Akademie e. V.