Lesung mit der tschechischen Autorin Radka Denemarková aus ihrem Anfang des Jahres vielfach ausgezeichnete Romanwerk »Stunden aus Blei«
Am 19. Dezember 2022 fand der „Blickwechsel“ als Lesung mit der tschechischen Autorin Radka Denemarková aus ihrem vielfach ausgezeichneten Romanwerk »Stunden aus Blei« in der Europäischen Akademie Berlin statt.
Im Anschluss folgte ein Gespräch zwischen Radka Denemarková und György Dalos unter der Moderation von Shelly Kupferberg. Tomáš Kafka, Botschafter der Tschechischen Republik in Deutschland, sprach am Beginn ein Grußwort.
Peking ist der Sehnsuchtsort für eine Gruppe von Europäern, die nach China kommen, um sich zu finden und ihr Leben in neue Bahnen zu lenken. Doch den Möglichkeiten zur eigenen Entfaltung sind in dem kommunistischen Land starre Grenzen gesetzt. Die Begegnung mit chinesischen Dissidenten stellen ihre Wertvorstellungen auf die Probe, und sie alle geraten an einen dramatischen Wendepunkt in ihren Leben. Den Mittelpunkt dieser Gruppe bildet eine tschechische Schriftstellerin, die sich voller Überzeugung für demokratische Werte einsetzt und zum moralischen Leitstern für eine chinesische Studentin wird. Die gemeinsame Lektüre philosophischer Texte animiert die junge Frau schließlich zum politischen Widerstand – mit fatalen Folgen.
In seiner Einleitung betonte Christian Johann, dass die Veranstaltung „hier, heute unter einem hoffentlich europäischem Licht“, stattfindet. “Dafür möchten wir auch immer stehen, dass Europa dann dabei doch auch noch eine Rolle spielt und auch für die Zukunft die zentrale Rolle, wenn es nach uns geht.“
Der tschechische Botschafter Tomáš Kafka findet es „sehr zufriedenstellend, dass Radka mit ihren Figuren, mit ihren Geschichten Tschechien verlassen hat und geht auch sehr weite Wege bis nach China.“
„Es ist unglaublich spannend, sich mit Ihrer Literatur, Ihren Arbeiten zu beschäftigen. Und liebes Publikum, wir werden heute einen kleinen Eindruck dieses Monumentalwerkes kennenlernen und diesen aktuellen Roman zum Anlass nehmen, um über Europa auch nachzudenken. Über Werte, über den Mauerfall und alles, was damit im Mittel und Osten dieses Kontinents losgetreten worden ist, zuvor und danach. Und das Ganze ein bisschen Revue passieren lassen“, so Shelly Kupferberg in der Vorstellung von Radka.
„Radka Sie sind jemand, der sich immer wieder wirklich in die Schichten der Geschichte hineinwühlt, hineinschreibt und es sich durchaus nicht nur dabei einfach macht. Wenn man sich das Themenspektrum anschaut, in dem sie unterwegs sind. Auch darüber werden wir noch ein bisschen sprechen. Ich freue mich zunächst erst und ich bin wirklich gespannt, welchen Ausschnitt Sie aus dem immerhin 880 Seiten umfangreichen Ziegelstein gewählt haben.“
Radka Denemarkovà stellt kurz den Inhalt des Romas vor: „Stunden aus Blei, liebes Publikum, handelt von einer Prager Schriftstellerin. Sie ist geprägt von der friedlichen Revolution in ihrem Land. Sie arbeitet über China und die Zensur und Repressalien der Volksrepublik, die sie dann schmerzhaft selber kennen und zu spüren bekommen wird. Diese Prager Schriftstellerin, sie heißt Birgit. Sie lernt in Peking chinesische Dissidenten kennen, sogenannte Unumerziehbare, die überwacht, isoliert und deportiert werden. Und wie sie sich mit dieser Gemengelage auseinandersetzen und welche Konsequenzen vor allem diese Gespräche und Begegnungen haben, das schildert dieser Roman in einer ganz interessanten Form. Aber jetzt hören wir rein.“
„Zuerst zu diesem Buch. Wir hoffen immer, dass andere die Antwort wissen. Dass andere Orte besser sind und andere Zeiten, die Dinge zum Guten wenden. Aber es stimmt nicht. Niemand kennt die Antwort. Andere Orte sind nicht besser und alles ist schon dagewesen. Lauter Bücher haben nicht nur ihre Schicksale, sie können auch Schicksal sein.“
„Schön, dass Sie heute Abend bei uns sind. György Dalos, geboren 1943 in Budapest. Ein bewegtes Leben, das ich Ihnen auch gleich vorstellen werde und ein großartiger Autor mit unglaublich vielen Büchern“, so Shelly Kupferberg und fragt Radka Denemarkova nach der Intention für den Roman. „Ich würde aber gerne erst einmal zwei, drei Gedanken lieber mit Ihnen austauschen über diesen Roman, um dann ein bisschen abzuheben. Der beruht ja tatsächlich auf einer Reise, die Sie gemacht haben und die dazu führte, dass Sie ein lebenslanges Aufenthaltsverbot in China bekommen haben. Wann und warum haben Sie denn entschieden, diese Geschichte als Fundament für ein literarisches Werk wie dieses zu nehmen? Sie sind eine, die sich immer wieder in der Literatur reibt an großen Themen, an Geschichte und Geschichten oder Schichten, Erinnerungskulturen und sich sicherlich auch nicht immer einfach machen. Woher diese Art von Interesse? Wie sind sie selber gar politisch sozialisiert worden, als dass sie diesen Blick haben für genau diese Schichten? Was liegt unter den Oberflächen? Was würden Sie sagen, was hat Sie geprägt?
„Ich wurde im Prager Frühling geboren. Ich habe den Spitznamen Schwalbe. Das war auch die Familiengeschichte. Aber mehr. Ich glaube nicht, dass es nur das politische ist, aber bei mir ist es immer mehr menschlich, was diese Themen mit den Menschen machen, mit den Familien. Und wenn mir jemand sagt, dass er sich nicht für die Politik interessiert, sage ich immer, ja, aber die Politik interessiert sich für uns. Das ist der Teil des intimen Lebens. Und das war es für mich. Ich habe mich selbst auch überrascht. Ich wusste, ich war nie so rebellisch. Aber wenn ich dann die Menschen treffe oder Freunde habe, die wirklich in den Autoritätssystemen leben oder in der totalitären. Irgendjemand muss denen die Stimme geben. Da gelten keine Ausreden. Und ich glaube, Literatur kann wirklich das alles verbinden, das heißt, die politische Ebene, gesellschaftliche Ebene. Aber auch die ganz emotionale Ebene“, so Radka Denemarkova´.
„Ja eine Stimme geben, die sie öffentlich nicht haben. Da sind wir auch ganz schnell bei Ihnen. György Dalos, geboren 1943 in Budapest, so Shelly Kupferberg. „Ja, ein reichhaltiges Leben.“
György Dalos, „was sie hier vorgelesen hat, das hat mich natürlich bewegt. Und zwar auch aus ebenfalls autobiografischen Gründen, weil ich bin mit einer Generation in Ungarn aufgewachsen, wo es zwei große sozialistische Mächte gab, die große Sowjetunion. Das war sozusagen auch die Bezeichnung nicht die kleine, sondern die große. Und dann China, das Land der Welt, was die größte Bevölkerungszahl hatte und für ein kleines Land wie Ungarn 93.000 Quadratkilometer, 9,2 Millionen Einwohner. Das war immer etwas faszinierend, was ich heute mit Ungarn zu tun habe.“
„Um welche Werte geht es denn? Wenn wir über europäische Werte heute nachdenken, in Anbetracht dessen, dass es auch europafeindliche Stimmungen zur Genüge gibt in diversen Ländern, nicht nur in Ungarn, Polen, auch in Italien, erleben wir das. Also über was sprechen wir denn da eigentlich“, fragt Shelly Kupferberg?
Radka: „Mir hat diese Perspektive geholfen. Wenn man, wenn man zum Beispiel in der Totalität wieder lebt oder in autoritären Systemen, dann weiß man, was Kostbares in Europa ist. Und das wurde schon definiert. Und das wissen wir. Diese Freiheit, Meinungsfreiheit, Demokratie, Rechtsstaat ist sehr, sehr wichtig, was wir jetzt auch in Ungarn und Polen verlieren. Und da sieht man auch in der Slowakei, das ist sehr, sehr gefährlich. Menschenwürde für jeden Menschen. … Das ist für mich auch eine Frage von Frauenrechten.“
„Und was mir wirklich fehlt, muss ich sagen, dass ich dieses Jahr viele Diskussionen mit Politikern, auch vom Europäischen Parlament hatte und es tut mir leid, aber es fehlen uns wirklich, die Politiker, die europäisch denken, die Visionen haben.“
Radka Denemarková betont, dass „alle diese Menschen, mit denen ich dann geredet habe, sie sind zwar im Europäischen Parlament, aber sie vertreten dann das eigene Land, diese Abkapselung von einzelnen Ländern, dass man für sich selbst etwas da ist“, aber das muss umgekehrt sein, dass diese Gemeinschaft also an der ersten Stelle steht, betont sie. „Ich bin nicht Tschechin, ich bin Europäerin oder und das ist schon die ganz andere Perspektive und Europa ist klein und das hat sich in diesem Jahr gezeigt, wir müssen ein bisschen unabhängig sein. Für Radka ist „diese innere Stärke sehr wichtig und das ist für mich wirklich etwas absolut schönes, dass wir im 20. Jahrhundert in der Geschichte der Menschheit endlich, endlich die Menschenrechte für alle Menschen dieser Welt definiert haben. Aber das ist eine. Das ist nicht so, dass man das, dass sich ein Mensch ändert, wenn der das liest. Man muss das leben und das dauert Generationen und meine Hoffnung, dass ich das eines Tages erlebe, denn ich werde den Optimismus nicht verlieren. Also kämpfen müssen wir weiter.“
Einen Blickwechsel wagen
Peking ist der Sehnsuchtsort für eine Gruppe von Europäern, die nach China kommen, um sich zu finden und ihr Leben in neue Bahnen zu lenken. Doch den Möglichkeiten zur eigenen Entfaltung sind in dem kommunistischen Land starre Grenzen gesetzt. Die Begegnung mit chinesischen Dissidenten stellen ihre Wertvorstellungen auf die Probe, und sie alle geraten an einen dramatischen Wendepunkt in ihren Leben. Den Mittelpunkt dieser Gruppe bildet eine tschechische Schriftstellerin, die sich voller Überzeugung für demokratische Werte einsetzt und zum moralischen Leitstern für eine chinesische Studentin wird. Die gemeinsame Lektüre philosophischer Texte animiert die junge Frau schließlich zum politischen Widerstand – mit fatalen Folgen.
Die Jury erläutert: »Stunden aus Blei« ist der so kühne wie geglückte Versuch, mit den Mitteln der Poesie und Autofiktion ein globales Bild unserer gewaltreichen Gegenwart zu entwerfen und dabei historische Verstrickungen aufzuzeigen – ohne die Verheißung wahrer Demokratie preiszugeben. Radka Denemarková erhebt selbst im repressiven China furchtlos die Stimme und führt sowohl mit ihrem literarischen Schaffen als auch mit ihrem politischen Engagement die Tradition des großen Václav Havel fort. Dafür erhält sie schon lange internationalen Zuspruch. Eva Profousová überträgt ihre vielschichtige Prosa mit lyrischen Anteilen und essayistischen Passagen präzise und findig in ein lebendiges, klingendes Deutsch und hält die Spannung von der ersten bis zur letzten Seite dieses in jeder Hinsicht gewichtigen Werks.
…ein glühender Appell, unsere Haltungen zu überdenken, denn wir tragen einen Makel in uns, der uns empfänglich macht für Demagogen, Heilsversprecher und vermeintliche Führer…– Michael Stavarič, Die Presse
Der Roman […] zeigt, wie die Entmenschlichung – ein Kennzeichen des 20. Jahrhunderts – fortschreitet, in der Symbiose aus Diktatur und Kapitalismus. Niels Beintker, BR2 Kulturwelt
Deutsch: Stunden aus Blei. Übersetzung: Eva Profousová. Hoffmann und Campe, Hamburg 2022.
Die Veranstaltung findet im Zuge der Veranstaltungsreihe „Blickwechsel“ statt, die von der Willi-Eichler-Akademie e.V. organisiert und angeboten wird und den Blick auf andere europäische Menschen, Regionen und Lebensweisen richtet.
Radka Denemarková, geboren 1968, freischaffende Schriftstellerin, studierte an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität Germanistik und Bohemistik. Denemarková ist eine Reisende zwischen den Disziplinen. Sie erhielt als einzige Preisträgerin den prestigeträchtigen tschechischen Preis Magnesia Litera viermal: für den besten Roman des Jahres (2005), das beste Sachbuch des Jahres (2008), die beste Übersetzung des Jahres (2011), Buch des Jahres (2019, Stunden aus Blei). Ideologisch unverblendet schreibt und provoziert die Autorin auch weiterhin. Ihr in Tschechien erschienener Xi-Jinping-Roman mit dem Titel Hodiny z olova (dt: Stunden aus Blei) hat ihr ein Einreiseverbot in China eingetragen.
Shelly Kupferberg, geboren 1974 in Tel Aviv, ist in Westberlin aufgewachsen und hat Publizistik, Theater- und Musikwissenschaften studiert. Sie ist Journalistin und moderiert für ›Deutschlandfunk Kultur‹ und ›RBB Kultur‹ diverse Sendungen zu Kultur und Gesellschaft. Shelly Kupferberg lebt mit ihrer Familie in Berlin. Ihre thematischen Schwerpunkte sind neben der Kultur und Literatur im Besonderen auch Themen, wie Zivilgesellschaft, Demokratie und Partizipation, Diskriminierungs-, sowie Migrationsthemen. Im August 2022 erschien ihr Roman „Isidor. Ein jüdisches Leben“ im Diogenes Verlag.
Tomáš Kafka, Botschafter der Tschechischen Republik in Deutschland.
( Foto Kafka: Foto Tomáš Kafka – Jens Schicke )
Eine Veranstaltung der Willi-Eichler-Akademie e.V. in Zusammenarbeit mit der Europäischen Akademie Berlin.