Am 12. Oktober 2022 fand unser „Europäischer Salon“ in der vorwärts: Buchhandlung in Berlin statt. Zusammen mit Prof. Dr. Matthias Weber, Historiker sowie Direktor des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Mitglied im Lenkungsausschuss des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität und Johannes Schraps, SPD-Bundestagsabgeordneter,  diskutierten wir im Rahmen unseres Projektes „Transformation der Erinnerung – Transformation der Aufarbeitung“. Die Moderation übernahm Dr. Mechthild Baumann.


Wir sind der Frage nachgegangen, wo es heute Perspektiven in der Erinnerungskultur Ostmitteleuropas und den Erfahrungen der Vergangenheit gibt. Im Verhältnis Deutschlands zu Polen und seinen anderen Nachbarstaaten im östlichen Europa spielt der wechselseitige Umgang mit der Vergangenheit bis heute eine zentrale Rolle – ganz besonders die Geschichte des 20. Jahrhunderts, in dem der von Deutschland ausgehende nationalsozialistische Vernichtungskrieg unendliches Leid verursachte. 

Unsere Gäste diskutierten mit dem Publikum über Erinnerungskultur in Ostmitteleuropa.

„Herr Professor Weber, würden Sie uns aufklären, was es mit diesem Netzwerk auf sich hat und wie Sie, wie Sie denn das Thema Erinnerung in Deutschland und Osteuropa sehen? Wie reden wir übereinander? Wie erinnern wir uns an unsere gemeinsame Geschichte“, fragt Mechthild Baumann.

„Das Thema Europa, weil Europa das Anliegen ist, das uns alle verbindet und das auch in ihrer ganzen inhaltlichen Arbeit im Mittelpunkt steht. … Erinnerungskultur hat Konjunktur zurzeit. Es ist ein Thema, das in der Zeit, als ich studiert hatte und promoviert habe, mit Hinblick auf das östliche Europa kein zentrales Thema war, das uns interessiert hat. … Das hat sich grundlegend geändert. Heute ist das Thema östliches Europa und Erinnerungskultur in aller Munde. Sie wissen, wie Putin den Krieg begründet. Durch historische Argumentation, die Ukraine habe keine eigene Staatlichkeit. Sie wissen, was in Polen derzeit stattfindet“, so Matthias Weber.

„Das Institut, das ich leite, wurde 1989 gegründet, hat aber mit den großen politischen Entwicklungen des Jahres 1989 gar nicht direkt zu tun. Das Institut wurde im Januar 89 gegründet und die Deutsche Einheit hat sich ja erst im Laufe dieses Jahres entwickelt. Wir befassen uns mit deutsch-ostmitteleuropäischen Kulturbeziehungen allgemein und insbesondere mit den Regionen, in denen früher einmal Deutsche gewohnt haben und die dann auch noch zur Verfügung in Polen, Tschechien, Tschechoslowakei, Russland und andere Länder übergegangen sind, also Schlesien, Pommern, Preußen, Ostpreußen, aber auch mit den deutschen Siedlungsgebieten im östlichen Europa, einschließlich der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, des deutschen Angriffskrieges und Fragen von Flucht, Vertreibung und Migration. Wir erzählen diese Geschichte als eine europäische Geschichte. Diese Regionen, die jetzt in aller Kürze nur erwähnt werden können, sind Regionen, in denen sich europäische Kultur, in dem sich europäische Austausch, Sprache, Kulturaustausch mit unterschiedlichen Konstellationen und unterschiedlichen Nationen und Sprachen entwickelt hat, also deutsch-polnische, deutsch-tschechische, polnisch-tschechische Interaktionen. All das ist in diesen Regionen wie in einem Labor nachzuvollziehen. Und im Grunde steht es so auch für die europäische Vielfalt insgesamt.“

„2005 wurde dann im Warschauer Königsschloss das Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität gegründet, also an einem historischen Ort mit der Kultusministerkonferenz. Und dieses europäische Netzwerk hat eben auch den Auftrag der Dokumentation und Vermittlung der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Ich lese mal ein, zwei Sätze aus dem Gründungsdokument vor: Das Netzwerk soll eine gemeinsame, ausschließlich vom europäischen Geist der Versöhnung getragene Analyse, Dokumentation und Verbreitung der Vergangenheit unterstützen und dann die Geschichte der Völker Europas miteinander verbinden und zur Entwicklung einer europäischen Erinnerungskultur beitragen.“

„Alles mit dem Ziel, ein europäisches Geschichtsverständnis zu vermitteln. Historisch gleich auf europäisches Geschichtsverständnis.“

Prof. Weber führt weiter aus, dass „für uns ein europäisches Geschichtsverständnis eine bestimmte Haltung gegenüber der Vergangenheit ist und auch gegenüber den Nachbarn. Das heißt ernst nehmen des Anderen, von anderen abweichenden historischen Erfahrungen. Und zunächst einmal vom Nachbarn lernen, wie er die Vergangenheit sieht, vielleicht auch ohne es gleich zu kommentieren oder korrigieren zu müssen. Einfach Geschichtsbilder zu erfassen, sie in die eigene Sichtweise einzubauen oder die eigene Perspektive zu erweitern, um dann darüber diskutieren zu können. Und das mit dem Geist der Solidarität. Deswegen heißt das Netzwerk Erinnerung und Solidarität. Solidarität ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass wir eine europäische Geschichtsbetrachtung bekommen. Solidarität heißt Empathie für die Sichtweise des anderen, mehr Pluralität, mehr Toleranz in Europa und weniger nationales Denken.“

„Also das Gemeinsame ist weniger auf einer historischen Ebene in dem Sinne, sondern ist im gemeinsamen Umgang mit dem Anderen, mit der Perspektive des Anderen und mit der Bereitschaft, diese Perspektive auch einzunehmen und dann darüber zu diskutieren. Das ist der eigentliche Mehrwert“, so Manfred Weber.

Matthias Weber, Direktor des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, stellte die Bedeutung von politischen Akteuren in der Erinnerungskultur heraus.

Der SPD-Bundestagsabgeordnete Johannes Schraps betonte während des Gesprächs den Beitrag u. a. der polnischen Solidarność-Bewegung zur deutschen Wiedervereinigung.

„Also Politik kann den Weg ebnen. Aber häufig ist es dann doch an der Basis, sind es zivilgesellschaftliche Initiativen, die das dann auch tragen und zum Leben bringen.“

„Wir haben gerade zwar viel über Polen gesprochen, und wenn man an die Solidarnosc-Bewegung denkt, muss man das unbedingt erwähnen aber es gibt ja auch noch Ungarn und an andere osteuropäische Länder, zum Beispiel Tschechien, die viel dazu beigetragen haben, dass die deutsche Wiedervereinigung möglich wurde. Das ist aus meiner Sicht an vielen Stellen noch ein bisschen unterbelichtet. Das könnte stärker in die Öffentlichkeit gestellt werden, um eben auch die Anerkennung gegenüber diesen Ländern auszudrücken“, so Johannes Schraps.

Danke für die anregende Diskussion und das Gespräch über die Last der Vergangenheit, eine gemeinsame europäische Erinnerungskultur und wie diese gestaltet werden kann.

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Europäischer Salon am 12. Oktober 2022 mit:

Prof. Dr. Matthias Weber, Historiker, Direktor des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Mitglied im Lenkungsausschuss des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität.

Johannes Schraps, Politikwissenschaftler und Politiker. Seit 2017 Mitglied des Deutschen Bundestages. Mitglied im Europaausschuss und stellv. Mitglied des Auswärtigen Ausschusses. Zudem ist er stellv. Mitglied im Kuratorium der Bundeszentrale für Politische Bildung.

Dr. Mechthild Baumann arbeitet europaweit als Gutachterin und Beraterin für europäische Projekte und EU-Förderanträge. Zu ihren Auftraggebern gehören die Europäische Kommission, Universitäten und zivilgesellschaftliche Organisationen. Sie verfügt zudem über zwanzig Jahre Erfahrung als Programmleiterin und Koordinatorin in der europapolitischen Erwachsenenbildung. Sie baute den Kreisverband der Europa-Union Havelland mit auf und ist Vorstandsvorsitzende der Europa-Union Brandenburg.