Am 10. Mai 2022 fand unser „Europäischer Salon“ mit Marcel Röthig, den Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kyiw und Landesvertreter für die Ukraine und Moldau und Dr. Susanne Drake, der Leiterin des Brüsseler Büros der Willi-Eichler-Akademie und Vorstandsmitglied von Solidar, statt.
Im Rahmen unseres Projektes „Transformation der Erinnerung – Transformation der Aufarbeitung“ sind wir der Frage nachgegangen, wie die Entwicklungen in Europa angesichts des Krieges in Europa zu bewerten sind.
Die Invasion der Ukraine ist wieder ein neuer dramatischer Wendepunkt, der den Zustand Europas und der Welt prägen wird. Die Zeiten sind unruhig, für viele von uns gar unübersichtlich. Eine Zäsur ist für das globale politische System zu erwarten. Häufig stellen wir Menschen uns die Zukunft eigentlich gerne als eine Weiterführung der Gegenwart vor. Aber Putins Krieg stellt vieles infrage. Dieser völkerrechtswidrige Angriffskrieg erschüttert die Grundfesten der internationalen Ordnung, wie wir sie als selbstverständlich vorausgesetzt hatten. Die weitere Entwicklung der Ukraine ist unvorhersehbar. Die Europäische Union ist gezwungen, ihre mögliche Verteidigung neu zu denken.
Vor über 30 Jahren weckte der Zusammenbruch des Ostblocks in Berlin und Kyiw, in Tallin und Sofia große Hoffnungen. Die neoliberale Transformation brachte in osteuropäischen Ländern Gewinner und Verlierer hervor. Russland glitt in ein wirtschaftliches und politisches Chaos ab, auf dem Präsident Putin sein autoritäres Regime begründete.
Wir haben uns gefragt, ob wir die Entwicklungen in den osteuropäischen Ländern und ganz besonders in der Ukraine, Georgien und Moldau in den vergangenen Jahren wirklich wahrgenommen haben? Wie waren unsere Antworten nach dem Maidan und der Annexion der Krim?
Welche Konsequenzen und Perspektiven können sich aus diesem Konflikt für die demokratische Entwicklung in der Ukraine, für eine Mitgliedschaft in der EU und für die zukünftige Sicherheit in Europa ergeben? Was bedeutet die Fluchtbewegung aus der Ukraine für Europa, die Nachbarstaaten, und erst recht für die Ukraine selbst?
„Das Schicksal und die Zukunft der Ukraine geht uns alle an. Russlands Krieg gegen die Ukraine stellt einen Bruch der europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung dar. Die Behauptung der Freiheit und Unabhängigkeit der Ukraine wird entscheiden, ob Europa noch als Friedensprojekt gilt oder ob im 21. Jahrhundert Grenzverschiebungen und Friedensdiktate wieder möglich werden“, so Marcel Röthig.
„Wir sind alle sehr gespannt, endlich Worte zu hören von jemandem, der die Sache vor Ort über viele Jahre mitverfolgt hat, der auch familiäre Bindungen in die Ukraine hat. Wann hattest du das erste Mal das Gefühl, dass die deutsche Politik gegenüber Russland möglicherweise auf Illusionen beruht “, fragte Susanne Drake.
„Es ist in den letzten Wochen viel über die Ukraine gesprochen worden, so viel wie nie zuvor. Das ist auch gut so, deswegen glaube ich, muss man nicht so sehr die Hintergründe des Konfliktes oder das aktuelle Geschehen an der Front thematisieren, weil einfach viele Leute über die Nachrichten aktuell verfolgen, was in und um die Ukraine passiert.
Ich lebe seit sechs Jahren in der Ukraine, habe vorher für die Friedrich- Ebert-Stiftung in Moskau gearbeitet, war auch zuständig für Belarus, bin jetzt zuständig noch parallel für die Republik Moldau. … Und wenn man sich mit der Region beschäftigt in den letzten Jahren, dann glaube ich, gibt es immer wieder Momente des Zweifelns. Ich denke sind wir politisch auf einem richtigen Weg. Gerade wenn man nach Moskau schaut. Ich hatte relativ häufig in meiner Zeit in Moskau das Gefühl, dass wir eine Hand ausstreckten und immer wieder den Dialog beschworen haben. Aber der nächste Tiefschlag folgte sogleich. Und dann kommt die Frage, wie lange macht man eigentlich weiter mit der ausgestreckten Hand? Wann ist Schluss? War Nordstream2 richtig, ein Vertragsabschluss, der gelaufen ist nach der Krim Annexion und nach dem Beginn des Krieges im Donbass?
Für die Ukraine hat der Krieg nicht am 24. Februar dieses Jahres begonnen, sondern mit der Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges im Donbass.
Waren wir da nicht einen Schritt zu schnell oder nicht entschlossen genug? Ich erinnere mich an Äußerungen von russischen Politikern während meiner Zeit in Moskau. Beispielsweise ein russischer Abgeordneter, Vorsitzender eines Ausschusses der Duma, der gesagt hat, dass es in der Ukraine nicht um Demokratie geht, sondern um Nazis. Im gleichen Atemzug versucht er zu erklären, dass es überhaupt gar keinen russischen militärischen Einfluss auf das Geschehen im Osten der Ukraine gäbe. Und wenn es diesen Einfluss gäbe, dann sähe ja alles ganz anders aus. Und das sagt er in einem offenen Gespräch, wo auch deutsche Abgeordnete waren. Also mit anderen Worten das Hadern, das Zweifeln, so glaube ich, war immer dabei“, sagt Marcel Röthig.
„Es gab den Punkt, an dem sich Dinge geändert haben“, so Röthig. „Das war der 24 Februar, seit dem ich auch für Waffenlieferungen an die Ukraine bin. Vorher war das etwas, was ich mir so nicht hätte vorstellen können, was ich auch nicht für richtig gehalten habe. Die vollumfängliche militärische Aggression war der Moment, indem sich etwas geändert hat, auch etwas, womit wir lange Zeit selber nicht gerechnet haben. Seit Januar war der Krieg Dauerthema und die Sorge natürlich, ob das, was sich an den Grenzen zusammenbraut, nur ein Spiel ist oder ob da Schlimmeres droht. Eigentlich hat sich niemand vorstellen können, dass das wirklich passieren könnte.“
„Es gab dann die schlechten Vorzeichen mit der Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken als unabhängige Staaten. Das Worst Case Szenario, das man sich vorstellte war also eine militärische Eskalation rund um den Donbass. Dass wir aber dann in den Kiewer Vororten auch im Krieg waren, war etwas, was wir uns nicht haben ausmalen können. Gleichwohl, glaube ich, war es richtig, solange es geht, mit der ausgestreckten Hand auf Russland zuzugehen. Seit dem 24. Februar haben wir leider eine andere Lage und eine andere Welt.“
„Aber wenn wir in der Geschichte jetzt mal zurückgehen und bis 1989 zurückgehen, so war ja die Werdung der Ukraine auch eine „bumpy road“. Die war geprägt von vielen sehr verschiedenen Signalen, die auch in den Westen kamen. Und wir mussten auch erst mal sehen welche längerfristige Perspektive ergibt sich. Hast du das auch so empfunden?“ fragt Susanne Drake.
„Die FES war die erste politische Stiftung, die in die Sowjetunion ein Büro eröffnen konnte. Also, als die Ukraine noch zur Sowjetunion gehörte, im Jahr 1989, auf Einladung des Zentralkomitees, gab es damals ein erstes Stiftungsbüro und somit auch einen Anfang der Arbeit in der Ukraine als Teil der Sowjetunion. Mit Unabhängigkeit der Ukraine haben wir dann auch angefangen, in der Ukraine selbst zu arbeiten.“
„Die ukrainische Politik von heute ist eine sehr, sehr junge Politik. … Die Politiker sind alle Anfang 30, und das ist zu erklären mit Selinskyj und dem Wahlerfolg seiner Partei „Diener des Volkes“. Das führt dazu, dass sehr viele Menschen jetzt in der Politik sind, die keinerlei sowjetische Prägung haben, die vielleicht im Jahr 88/ 89 geboren wurden, und als Kinder durch die 90er Jahre gegangen sind. Und diese Jahre waren für die Ukraine sicherlich eine ganz, ganz andere Zeit“, so Röthig.
„Fangen wir vielleicht mal einfach so an, wie die Ukraine zu dem gekommen ist, wo sie eigentlich heute steht. Da müssen wir sogar bis zu Tschernobyl und der Intransparenz der kommunistischen Führung damals zurückgehen. Ein Gefühl, was ich in den Monaten nach der Katastrophe breitmachte in der Ukraine. Wir können der Obrigkeit nicht trauen trotz Glasnost und Perestroika. Das heißt, es begann zu bröckeln und das Vertrauen zu schwinden. Hinzu kamen die wirtschaftlichen Nöte der späten 80er Jahre. Das war in Russland nicht anders. Aber etwas, was viele bei uns vergessen haben sind die Bergarbeiterstreiks der späten 80er Jahre im Donbass, vor allem im Donbass. Diese Streiks waren ein Grund, warum die Sowjetunion kollabiert ist. Und es gab dann seit 91 ein Referendum in der Ukraine, wo die Mehrheit der Menschen für die Unabhängigkeit war. Übrigens auch die überwältigende Mehrheit der Menschen auf der Krim und im Donbass. Es hat sich im Donbass und infolgedessen eine sehr starke regionale, wenn man so will, Identität ausgeprägt. … Es war eine Zeit, wo wie so oft das im Osten Europas war, Biografien von heute auf morgen nichts mehr wert waren“ so Röthig.
„Die Ukraine hat einfach eine ganze Menge mitgemacht. Und was ich hier klar sagen will: das Ziel, Mitglied der EU zu werden war für die Mehrheit der Menschen in der Ukraine längst seit Anfang der 2000er Jahre mehrheitsfähig.“
„Die Fußballeuropameisterschaft 2012 hatte einen riesigen Anteil an der europäischen Identität der Ukraine. Das Gefühl, dass man irgendwie zu Europa gehört. Was die NATO angeht, war das immer noch eine andere Frage. Bis 2014 war der NATO-Beitritt nicht Wunsch der Mehrheit in der Ukraine. Aber mit der Annexion der Krim und mit dem Beginn des Krieges im Donbass hat sich das geändert. Und nun haben wir die Situation, an der wir stehen. Letztlich eine Verkettung, die irgendwann möglicherweise zwangsläufig dazu führen musste, wo wir jetzt hingekommen sind nach dem 24 Februar“, fährt Röthig fort.
„Gleichwohl würde ich sagen, dass der Krieg sehr stark dazu geführt hat oder führen wird, dass das Nation Building der Ukraine sich abschließt. Also viel mehr Menschen, die jetzt ins Ukrainische wechseln, weil sie vielleicht jetzt doch merken, dass mit der ukrainischen Sprache auch eine Identität einhergeht, was vorher keine Rolle gespielt hat.“
„Also ich hake trotzdem noch mal ein bisschen nach, wann man das europäische „Erweckungserlebnis“ der Ukraine erkennen kann. War das, sagen wir mal, ungefähr in der Zeit des Maidans, dass dann eben auch Mehrheiten der Bevölkerung sich gesagt haben, jawohl, das ist der Weg, den wir gehen möchten?“ fragte Susanne Drake.
„Ja das ist ungefähr richtig. Ich finde, es ist sehr, sehr viel geschehen seit dem Jahr 2014 besonders an Reformen, auch jenseits der wirtschaftlichen Dimension. … Ein ganz konkrete Beispiel ist die kommunale Dezentralisierung der Ukraine, die dazu geführt hat, dass viel mehr Menschen teilhaben konnten oder sich auf einmal kommunalpolitisch eingebracht haben, was vorher gar nicht so möglich war oder gedacht war.“ erklärte Röthig
„Ein möglicher EU Beitritt würde ja auch bedeuten, dass die Ukraine sich mit dem Green Deal und der Transformation der Gesellschaft in eine digitale und nachhaltigere Zukunft auseinandersetzen muss. Wie sind denn da die Voraussetzungen“, fragt Susanne Drake weiter.
„Die EU sagt ja sehr klar, dass es für die Ukraine kein vereinfachtes Verfahren geben kann. Und es kann auch, denke ich, kein selektives Verfahren geben, so dass man sagt, da machen wir Integration und da nicht, weil es da nicht funktioniert. Nein, es gilt derselbe Baukasten für alle. … Der Green Deal war ein Thema, was die Ukraine in den letzten Jahren sehr ambitioniert angegangen ist, auch wenn jetzt natürlich durch den Krieg das Thema eine schwere Schlagseite bekommen hat. Aber der Kohleausstieg in der Ukraine war sowieso ein undankbares Thema … So gesehen, wird der Krieg viele Fragen von allein lösen, weil viel Industrie verschwinden wird und einfach nicht mehr wieder aufgebaut werden kann“, so Röthig.
Drake fährt fort, „Das ist sicher so, denn bevor wir uns diese schöne Zukunft vorstellen können, muss dieser verdammte Krieg ja erst mal zu Ende sein. … Ich wende mich jetzt wieder an den Moskau-Kenner. Wie siehst du die Hoffnung für ein Ende? Ich weiß, es ist Kaffeesatzleserei, aber immerhin sitzt du weitaus näher dran als wir?“
„Ja, also faktisch ist es so, dass beide Seiten zurzeit sehr stark auf Zeit spielen. Militärisch die Ukraine, weil sie weiß, jeden Tag, den sie halten, verbessern sich ihre Karten bei den anschließenden Verhandlungen. Und Russland, weil man jetzt einmal in so eine Situation reingekommen ist, aus der man nicht mehr rauskommt, ohne militärischen Erfolg vorzuzeigen. … Meine Befürchtung ist, dass es jetzt mehr in einen Stellungskrieg übergeht, weil die Ukrainer nicht oder noch nicht in der Lage sind, eine vollumfängliche Gegenoffensive zu machen. Und wenn Russland mit den Kräften nicht mehr weiterkommt? Dann ist die Frage, kommt man zu so einer Art – ich nenne es mal Minsk minus? Also eine Art neues Minsker Abkommen, ein recht bröckelnder Waffenstillstand, der zumindest dafür sorgt, dass man keine Luftangriffe mehr im Rest des Landes hat, aber es dann immer wieder die kleineren Gefechte entlang dieser riesigen Kontaktlinie geben wird, was uns möglicherweise auf Jahre beschäftigen wird. Oder gelingt es der Ukraine, eine Gegenoffensive zu machen und die Russen auf die Position vor dem 24. Februar zurückzudrängen? … Aber man hat noch keine Einigkeit hergestellt über die Grenzverläufe der Zukunft. Und Russland versucht, das, was man erobert hat, zu halten. Die Ukraine versucht, das zurückzuerobern, und es kommt darauf an, wer da am Ende des Ganzen siegreich hervorgeht. Dann werden die Verhandlungen entsprechend auch weitergehen. Und meine Befürchtung ist, dass es ein möglicherweise jahrelanger Krieg bleiben wird, auf einer niedrigeren Schwelle, als wir das heute erleben. … Und das, was wir jetzt sehen, ist vielleicht die letzte große russische Offensive. Wir wissen nicht, was noch in Transnistrien passiert, was in Belarus passiert. Strohfeuer sind da sicherlich immer noch möglich. Es wird uns leider Gottes auf lange Sicht beschäftigen und möglicherweise wird auch der Beitrittsprozess in die EU beendet, während parallel noch Krieg stattfindet. Auch das ist es sicherlich möglich und das ist etwas, was die europäische Erfahrung, die in Zypern gemacht wurde, noch mal bei weitem übertreffen wird“, so Röthig.
„Aber deine Analyse ist natürlich weitaus interessanter als vieles, was sehr viele selbsternannte Militärexperten heute so aus Deutschland über die Medien verbreiten. Es war eine große Bereicherung und hochspannend. Du hast wirklich ein sehr breites Bild gezeichnet, auch ein hoffnungsvolles Bild. An diesem Abend wurde ein anderes Licht auf die Lage in der Ukraine und der Region geworfen und auf den ganzen Konflikt, zum Teil auch schockierende, die einen sehr nachdenklich zurücklassen.“, bedankte sich Susanne Drake bei unserem Gast.
Nachhören lässt sich der Abend in unserem Video.