(!) Verschoben auf Oktober
In unserem „Europäischen Salon“ wollen wir mit der Historikerin Dr. Franziska Davies im Rahmen unseres Projektes “Transformation der Erinnerung – Transformation der Aufarbeitung” auf koloniale Denkmuster in Bezug auf die ost- und mitteleuropäischen Staaten schauen.
Gesprächspartnerin und Moderatorin Anna Delius.
Durch den Angriff auf die Ukraine und den damit zusammenhängenden Begriffen wie „Zeitenwende“ oder Epochenumbruch wurde auch die Vernachlässigung der Sorgen und Perspektiven vieler Staaten in Mittel- und Osteuropa offen gelegt, auf die Expert*innen in den letzten Jahren deutlich verwiesen haben. Die gesamte deutsche und westeuropäische Öffentlichkeit muss sich dem Vorwurf des Nicht-Sehen-Wollens, der verweigerten Perspektiveinnahme stellen.
Der Blick auf den Begriff und die Region Osteuropa, hinter denen sich Diversität und Uneinheitlichkeit verbirgt, muss sich also dringend verändern. Die moralische Hybris in Westeuropa, aus der fatale Fehleinschätzungen hervorgingen, kann jedoch nur nachhaltig gebrochen werden, wenn verschiedene Perspektiven im Diskurs anerkannt und berücksichtigt werden.
Wie steht es, wenn der über 70 Jahre lang bestehende Rechtsgrundsatz der unverletzlichen Grenzen aufgegeben wird, der Imperialismus in seiner schrecklichsten Form auf den Plan tritt und Zivilisten ermordet, Städte zerstört werden? Der indische Historiker und Mitbegründer der „Subaltern Studies” Dipesh Chakrabaty gilt als einer der Vorreiter der postkolonialen Geschichtsschreibung. Seine Forderung „Europa provinzialisieren“ zählt inzwischen zu den geflügelten Wörtern der Geistes- und Sozialwissenschaften. Damit einher geht die Einsicht, dass die Geschichte (West-)Europas nicht, wie lange geschehen, mit „allgemeiner“ Geschichte gleichgesetzt werden darf, wenngleich die Auffassungen darüber, wie stark Europa die Geschichte der Welt geprägt hat, stark auseinandergehen. Zugleich wohnen postkolonialer Perspektiven auch Risiken inne. Anders als beispielsweise im marxistischen Internationalismus wird kein universaler Anspruch und oftmals auch keine materialistische Analyse der Gesellschaft verfolgt. Auch argumentiert beispielsweise der amerikanische Soziologe Vivek Chibber, dass sich nicht-westliche Gesellschaften mit westlichen Theorien nicht erklären lassen. Statt dem Streben nach innerer Kohärenz und Systematik legt der Postkolonialismus Wert auf die Betonung und Akzeptanz von Differenzen, weshalb postkoloniale Perspektiven oftmals lose nebeneinander koexistieren. Wir wollen daher nach Chancen und Risiken fragen, aus postkolonialen Perspektiven auf Europa zu blicken.
Vor diesem Hintergrund wollen wir nach Möglichkeiten suchen und die großen politischen Umwälzungen der Gegenwart reflektieren.
Über die Schieflagen der deutsche Debatte zur Ukraine seit 2014 schreibt Davies: “(es gab) eine Russland-Fixierung zu Lasten Ostmitteleuropas ganz besonders aber der Ukraine, eine ahistorische Romantisierung der Entspannungs- und Ostpolitik des Kalten Kriegs, eine mentale Fortführung eines gemeinsamen russisch-deutschen Imperialismus sowie blinde Flecken im Umgang mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs.”
Sie sind herzlich eingeladen mit uns zu diskutieren.
Europäischer Salon mit:
Dr. Franziska Davies ist in Düsseldorf geboren. Sie ist eine deutsche Osteuropa-Historikerin, die an der an der Ludwig-Maximilians-Universität München promoviert hat, wo sie Osteuropäische Geschichte lehrt. Zu ihren Forschungs- und Publikationsschwerpunkten zählt die moderne Geschichte Russlands, Polens und der Ukraine. Im Herbst erscheint das Buch „Die Ukraine in Europa – Traum und Trauma einer Nation“.
Anna Delius ist Referentin für Polen und das Baltikum in der der Projektgruppe „Mittel-, Ost- und Südosteuropa“ der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) in Berlin. Zuvor hat sie an der Freien Universität Berlin zur Geschichte spanischer und polnischer Oppositionsbewegungen im 20. Jahrhundert promoviert. Ihr Buch „Working on Rights“ wird im Herbst im De Gruyter Verlag erscheinen. Anna Delius ist außerdem Co-Autorin einer Studie über kollektive Erinnerungen und europäische Identitäten in Europa (VS Springer) sowie zahlreicher Fachartikel zu Erinnerungskulturen und demokratischen Oppositionsbewegungen in autoritären Regimes nach 1945.
Eine Veranstaltung der Willi-Eichler-Akademie e.V.