Europäischer Salon
27. Juni 2022, 18:30 Uhr
Veranstaltungsort: Studio des Lawrence, Oranienburger Straße 69, 10117 Berlin


 

Europa im vierten Jahrzehnt nach den Freiheitsrevolutionen 1989/90

 

Am 27. Juni 2022 fand im Studio des Lawrence in der Oranienburger Straße in Berlin eine weitere Auflage unseres „Europäischer Salons“ statt. Zu Gast auf dem Podium waren Gert Weisskirchen, emeritierter Professor für Sozialpädagogik und angewandte Kulturwissenschaften sowie ehemaliger außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Alexander Formozov, in Berlin lebender Koordinator von zivilgesellschaftlichen und Bildungsprojekten mit sowie in Mittel- und Osteuropa und Anja Linnekugel, Referentin bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Moderiert wurde der Abend von Hendrik Küpper.

Anlass und Thema hätten dabei kaum relevanter sein können: Wenn wir den Blick auf die historischen Situationen richten und konkret die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Folgewirkungen in den Fokus nehmen, uns mit den Folgen der Spaltung auseinandersetzen, den Erschütterungen, Revolutionen und Veränderungen der letzten 30 Jahre nachspüren, dem Krieg in der Ukraine, so drängt sich die Frage auf, wo wir heute eigentlich stehen. Die rechtsstaatliche, pluralistische Demokratie steht derzeit vor enormen Herausforderungen. Ob und wie wir diese bewältigen, wirkt sich auf den großen Antagonismus unserer Zeit aus: Es geht letztlich also um Demokratie versus Autokratie. Im Rahmen unseres Projektes „Transformation der Erinnerung – Transformation der Aufarbeitung“ haben wir uns mit diesen Themen auseinandergesetzt und sind daher mit unseren Gästen der Frage nachgegangen, wo Europa im vierten Jahrzehnt nach den Freiheitsrevolutionen 1989/90 und angesichts des Krieges in Europa heute steht. Auch wurde der Frage nachgegangen, welche Rolle die politische Bildung für den Frieden sowie gegen die zunehmende Demokratiefeindlichkeit einnehmen kann.

Den Auftakt machte Gert Weisskirchen, der in seinem Impulsvortrag aus seinen langjährigen Erfahrungen als ehemaliger außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion berichtete und einerseits seine Empörung und Fassungslosigkeit über die derzeitigen Entwicklungen im Kontext des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges durch Russland zum Ausdruck brachte sowie andererseits Missstände, Fehler in der Ostpolitik und aktuelle Herausforderungen analysierte. Besonders drei Aspekte betonte Weisskirchen, der 33 Jahre für die SPD im Bundestag saß, in seinem Vortrag: Erstens sei für das Verständnis der Gegenwart und die Gestaltung der Zukunft eine Auseinandersetzung mit bisherigen und anstehenden Transformationsprozessen notwendig und zweitens ist das damit verbundene Lernen aus Entscheidungen, die sich retrospektiv als Fehler herausstellten, von Bedeutung. Zudem gelte es drittens, die Sichtweise und Motivation Putins präzise zu analysieren. So sei das Vorgehen von Putin lange geplant gewesen:

„Russland sollte wieder aufsteigen. Die Sammlung der Russischen Erde würde unter der Verheißung des ,Ruski Mir‘ eine einheitliche Gestalt annehmen. Ein neues Russland könnte so entstehen, eines, das alle Russisch Sprechenden in sich versammelt: Nowo Rossija. Es werde der Europäischen Union überlegen sein und den USA als Widerpart ebenbürtig. Der transatlantische Westen sollte abstürzen, angefeuert vom Fanal der von Putin befohlenen militärischen ‚Spezialoperation´. Der Zerfall des transatlantischen Westens schreite ohnehin unaufhaltsam fort. Seine inneren Konflikte trieben ihn in den bevorstehenden gesellschaftlichen Zusammenbruch. Militärisch sei er wehrlos, Werte trage er nur nach Außen zur Schau oder setze sie als rhetorische Waffe ein, um andere zu demütigen. In seinem Inneren sei der Westen leer, die liberale Demokratie Schein, reif zum unaufhaltsamen Abstieg, beschleunigt durch die Neuentdeckung eines imperialen eurasischen Denkens, panslawisch aktiviert. Damit Russland neu aufersteht, musste Ukraine als Mittel zum Zweck dienen. Belarus sollte Lukaschenka dem Autokraten im Kreml untertan machen. Auch deshalb musste die belarusische demokratische Revolution mit militärischer Gewalt aufgehalten werden.“

Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg durch Russland auf die Ukraine lässt sich also besonders durch die Einbettung in einen größeren Kontext und die Absichten Putins verstehen. Daher sei es rückblickend auch fatal gewesen, dass man zu wenig auf osteuropäische Stimmen gehört habe, was von Weisskirchen wie folgt zum Ausdruck gebracht wurde: „Der größte Vorwurf, den wir, mich eingeschlossen, uns machen müssen, ist, dass wir die Warnungen aus Ost- und Mitteleuropa nicht ernst genug genommen haben.“ Besonders müsse man daher nun verstehen, dass die Zukunft Europas und die Zukunft der Demokratie im Osten entschieden werde. Hierzu führte der langjährige Außenpolitiker der SPD-Fraktion aus:

„Die europäische Zukunft entscheidet sich in ihrem Osten. Diese Erkenntnis ist im Westen zu lange verdrängt worden. 1990 sah es so aus, als hätte der Anspruch auf die universale Geltung der Menschenrechte und die Verankerung der Demokratie, wie in der Charta von Paris mit der Zustimmung aller Unterzeichner kodifiziert, sich säkular behauptet. Dieses Momentum blieb stehen wie ein ornamentales Zeichen, das aus der Ferne zu besichtigen ist und hätte doch ein beständiger Aufruf zu gemeinsamem Handeln sein sollen. Zu viele verloren aus den Augen, dass in der Ukraine ein Ringen um die Substanz der liberalen Demokratie im Gange war und bleibt. Zu wenige achteten darauf, dass hier die Wege sich kreuzten: entweder in die liberale Moderne oder in die Autokratie. Dabei hatten aktive Zivilgesellschaften mit der orangenen Revolution und später auf dem Maidan in Kiew gezeigt, dass die Ukraine ihren unabhängigen Weg in ihre autonome europäische Selbstbestimmung gehen will.“

Da es mit Blick auf die Situation in der Ukraine um die Zukunft der Demokratie gehe, sei es umso bedeutender, sich nun geschlossen hinter die Ukraine zu stellen: „Vladimir Putin zwingt uns, Partei für die Freiheit der Ukraine zu ergreifen. Deshalb: Die europäische Zukunft entscheidet sich heute in der Ukraine. Hier scheiden sich Demokratie von Diktatur, Freiheit von Willkür, Mut von Angst, damit die Hoffnung siegt.“

Diese sehr klaren Worte wurden im Anschluss an den Vortrag aufgegriffen. Bevor es jedoch konkret um politische Maßnahmen gegen Krieg und Demokratiefeindlichkeit sowie für Frieden, Freiheit und Demokratie, also um die Gestaltung der Zukunft, ging, sollte der Blick für das Verständnis der Gegenwart auf die Vergangenheit gerichtet werden. So wurde noch einmal auf den Titel der Veranstaltung – „Europa im vierten Jahrzehnt nach den Freiheitsrevolutionen 1989/1990“ – hingewiesen. In Anspielung auf den Titel lässt sich rückblickend sagen, dass die damit einhergehenden Transformationsprozesse einerseits zwar eine freie und demokratische Zivilgesellschaft ermöglicht haben, andererseits sind damit aber in vielen Ländern auch harte Brüche und traumatische Erfahrungen einhergegangen. Anja Linnekugel und Alexander Formozov, die sich in ihrem beruflichen Kontext beide mit Transformationsprozessen und mit Osteuropa beschäftigen, knüpften hieran und an den Vortrag Weisskirchens an. Beide betonten mit Blick auf die Zukunft Europas und der Demokratie besonders die Bedeutung der politischen Bildung in diesem Zusammenhang.

Für Linnekugel, die für das „Deutschland Archiv“ der Bundeszentrale für politische Bildung allgemein verständliche Beiträge zur gemeinsamen deutschen Nachkriegsgeschichte und zum deutschen Einigungsprozess im europäischen Kontext dokumentiert, ist im Hinblick für die Demokratiebildung und die Gestaltung einer demokratischen und europäischen Zukunft besonders die Fähigkeit wichtig, die Perspektiven anderer einnehmen zu können und sich auf der Grundlage unterschiedlicher Perspektiven ein empathisch-reflexives und differenziertes Urteil bilden zu können. Alexander Formozov urteilte ähnlich und berichtete besonders aus dem Projekt „Lost in Transition“, das in dem Projektnetzwerk „Transition Dialogue“ angesiedelt war. In diesem Kontext verdeutlichte Formozov die Wichtigkeit, einzelne Narrative und Erzählungen als solche zu analysieren und zu rekonstruieren sowie diese dadurch aufzubrechen und damit verborgene Konflikte aufzudecken. Dies sei eine Voraussetzung dafür, unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen generationenübergreifend in einen konstruktiven nationalen wie auch internationalen Dialog zu bringen. Von besonderer Relevanz sei es hier auch, Zeitzeugen und zivilgesellschaftliche Akteure einzubeziehen und mit diesen gemeinsam Bildungsformate zu schaffen, in denen auch das Erleben verschiedener Transformationsprozesse thematisiert wird.

In einem lebhaften Austausch wurden an dem Abend nicht nur die Bedeutung der politischen Bildung im Dialog sowie die Auseinandersetzung mit Transformationsprozessen und an die Zivilgesellschaft angedockten Demokratiebewegungen wichtig, sondern immer wieder wurde auch deutlich, wie ein Blick in die Vergangenheit dabei helfen kann, die Gegenwart zu verstehen und so die Zukunft zu gestalten. Diese Trias wurde an dem Abend durch die zahlreichen Erfahrungsbeispiele von Weisskirchen besonders deutlich, der die Transformationsprozesse damals politisch intensiv begleitete.

Zum Abschluss des Europäischen Salons wurde noch an ein Grußwort des Präsidenten der Sozialistischen Internationale, Willy Brandt, an den Kongress der Sozialistischen Internationalen in Berlin am 15. September 1992, verlesen durch Hans-Jochen Vogel, erinnert: „Auch nach der Epochenwende 1989 und 1990 konnte die Welt nicht nur ,gut‘ werden. Unsere Zeit allerdings steckt, wie kaum eine andere zuvor, voller Möglichkeiten – zum Guten und zum Bösen. Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum – besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.“ Ein treffendes Zitat für diese Ausgabe des Europäischen Salons und für die Gestaltung einer demokratischen europäischen Zukunft!

Der Artikel, auf dem der Vortrag von Gert Weisskirchen basierte und der zuerst in den „perspektivends – Zeitschrift für Gesellschaftsanalyse und Reformpolitik“, in der Ausgabe 1/22 im Schüren Verlag, erschienen ist, kann hier nachgelesen werden: europa-impulse.de/wp-content/uploads/2022/08/12_Impulse-August2022.pdf

Über das von Alexander Formozov vorgestellte Projekt „Lost in Transition“ kann man sich auf der folgenden Seite informieren: www.transition-dialogue.org/lost-in-transition/

Zur Arbeit des Deutschland Archivs der Bundeszentrale für politische Bildung, über die Anja Linnekugel berichtet, finden Sie hier weitere Informationen: www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/


Moderation: Hendrik Küpper, studierte Politische Bildung und Philosophie/Ethik an der FU Berlin. Er war von 2017 bis August 2019 Landeskoordinator der Berliner Juso-Hochschulgruppen, ist Vorstandsmitglied der Hochschulinitiative Demokratischer Sozialismus e.V. sowie Redakteur der perspektivends – Zeitschrift für Gesellschaftsanalyse und Reformpolitik.

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