
Weil Europa sich ändern muss
In unserem „Europäischen Salon“ am 18. Mai 2021 kamen Prof. Dr. Gesine Schwan, Präsidentin und Mitgründerin der HUMBOLDT-VIADRINA Governance Platform und Vorsitzende der Grundwertekommission der SPD, und Dr. Klaus-Jürgen Scherer, Redakteur der Zeitschrift „Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte“ sowie geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Hochschulinitiative Demokratischer Sozialismus, ins Gespräch zu der Frage, warum Europa sich ändern muss.
Europa muss sich ändern, sich dabei selbst treu bleiben und darf die Gründe für seine Einigung nicht vergessen. Europa ist mehr als die EU oder der Euro-Raum. Es ist ein Prozess stetiger Veränderung und bringt immer neue Ideen hervor. Die Zukunft Europas liegt in unseren Händen!
Im Gespräch mit Gesine Schwan haben wir gerade angesichts der jetzigen Krise, der Corona-Pandemie, nach überzeugenden Lösungen demokratischer Politik für unsere Herausforderungen in Europa gesucht. Wir müssen die Probleme illusionslos in den Blick nehmen. Viele heutige Fragestellungen demokratischer Politik in Zeiten der Globalisierung entziehen sich dem Rahmen des Nationalstaates und brauchen europäische Antworten. Die Corona-Krise führt uns dies existenziell vor Augen.
Klaus Jürgen Scherer in seiner Einführung: „Weil Europa sich ändern muss heißt es und Europa war zunächst ein Friedensprojekt nach dem Zweiten Weltkrieg, dann ein Freiheitsprojekt, Griechenland, Portugal, Spanien, Osteuropa, Ende dieser Diktaturen und heute sollte es ein Globalisierungsprojekt sein, weil die Gestaltung der Globalisierung ohne ein einiges, handlungsfähiges Europa ohne klare Konzepte dann nicht funktioniert. Hier hat Frau Schwan klare Analysen und Änderungsvorschläge.“
Gesine Schwan fragt: „Was muss sich ändern? Wir sind schon lange über den Zeitpunkt hinweg, wo wir einfach für Europa plädieren können. Nämlich da, wo die Europäische Union, natürlich historisch gegründet von Nationalstaaten und wesentlich geleitet von nationalen Regierungen im Europäischen Rat, dieses Europa kann nicht und wird auch nicht vorankommen in wesentlichen Fragen des Zusammenhalts, der politischen Solidarität, eines einheitlichen Auftretens auf der globalen Ebene […], weil im Wesentlichen die nationalen Regierungen das Sagen haben, der notwendige Zusammenhalt, die notwendige politische Solidarität einfach fehlen. Das ist eine Analyse, die ist mit Händen zu greifen. Die Kommission einschließlich ihrer Präsidentin hat sich bisher nicht mutig gezeigt, auch gerade zum Beispiel beim Vorschlag zur europäischen Flüchtlings- und Asylpolitik. Nicht mutig gezeigt, ergänzende neue Wege zu gehen, jedenfalls dann nicht, wenn sie in Machtkollision mit nationalen Regierungen kommen und da gibt die Präsidentin der Kommission lieber schnell klein bei als sie da wirklich etwas unternimmt. […] Die enorme Krise durch Corona hat es plötzlich unmöglich gemacht, […] zu tun, als würden die ökonomischen Schwierigkeiten in Deutschland, vor allem die enormen Unterschiede zwischen Südeuropäern und den Nordeuropäern, […] als sei das irgendein Nationalcharakter der Faulheit oder einer falschen Wirtschaftspolitik geschuldet, das war schon damals nicht der Fall in der Finanz- und Bankenkrise, die zu einer Staatsschuldenkrise umgedeutet worden ist und das war sie ursprünglich nicht. […] Aber dieses Problem ist jetzt bei der Corona-Krise angegangen worden, weil man jetzt erstens die moralisierende Zuschreibung nicht machen konnte und weil man zweitens damit sehen konnte, wenn wir so weitermachen, die deutsche Exportwirtschaft, die etwa 60 % in europäische Länder exportiert, Schwierigkeiten haben wird, am Leben zu bleiben. Und der dritte entscheidende Faktor, dass sich die Bundeskanzlerin im Wesentlichen danach gerichtet hat, wie die Umfragen waren und nicht an der Sache her, was für Europa notwendig gewesen wäre.“
Weiter führt Frau Schwan aus, wo die gemeinsamen Aufgaben liegen: „Es gibt noch ein paar andere gemeinsame Aufgaben der Europäischen Union und nicht zuletzt im internationalen Bereich wo wir ja irgendwie einen Ort finden müssen, auch nach der Erfahrung mit Donald Trump als amerikanischem Präsidenten, in der Pluralen Großmachtkonstellation zwischen USA, China, Russland, dem gesamtasiatischen Bereich und eben Europa. Da sind wir kein wirklicher Akteur […], weil wir als Akteur diese vereinigende Solidarität und auch den Respekt, den man nur hat, wenn Handeln und Reden einigermaßen übereinstimmen, verloren haben.“
„Das ist auch ein Problem mit China, wenn es so offenkundig ist, dass deutsche Unternehmen sich unter Druck setzen lassen, Menschenrechtsverletzungen in China nicht zu erwähnen, wenn es so offensichtlich ist, dass die Deutschen den ökonomischen Gewinn über die Achtung vor den Werten von Demokratie setzen, aber nicht aufhören von den Werten zu sprechen, dann ist es das, was ein Aufschneider in der Klasse macht: Er redet groß und jeder weiß, das ist Quatsch und nicht ernst zu nehmen. Wenn ich sehe, dass die Präsidentin der Kommission und auch der Präsident des Europäischen Rates bei Erdogan auftreten und Menschenrechtsverletzungen kritisieren und das im Zusammenhang mit einer Flüchtlingspolitik, wo die EU pausenlos, nicht nur Menschenrechte verletzt, sondern auch Völkerrecht bricht […], dann ist das völlig unglaubwürdig.“
„Der Platz in der Welt ist nicht möglich ohne eine glaubwürdige, loyale und kohärente Politik im Sinne unserer Werte der Demokratie und der Menschenrechte, aber dann auch in der Versammlung der europäischen Staaten und wenn wir das in der Wirtschaftspolitik nicht praktizieren und wir dies vor allem in der Asyl- Und Flüchtlingspolitik eklatant verletzten, das kann man sich nicht mit ansehen, was da alles passiert, nicht nur im Mittelmeer und nicht nur auf der Balkanroute, sondern inzwischen jetzt auch im Atlantik, das alles ist beschämend und dann kann Europa nicht weiterkommen.“
„Das ist mein letzter Punkt: „Weil Europa sich ändern muss“, heißt nicht, dass sich plötzlich alles ändern muss, sondern weil wir als europäische Staaten in den letzten Jahren weitergekommen sind und wir eine Bürgerschaft haben, die sehr viel gebildeter ist, fähiger ist, kompetenter als noch vor 50 Jahren. Diese Bürgerschaft muss mehr in die Möglichkeit kommen mitzumachen. Ich bin überzeugt, wir werden für die Probleme, die wir haben, Lösungen finden und ich habe gerade ein Buch fertiggestellt, darüber, wie Europa versagt in der Flüchtlingspolitik und das eine menschliche Flüchtlingspolitik durchaus möglich ist, durchaus auch in unserem eigenen Interesse möglich ist. Ich verfechte nicht nur eine wertegetragene Politik, sondern eine, die im wohlverstandenen langfristigen Interesse funktioniert und ich sehe auch das Zusammenfließen von Werten und langfristigen Interessen. […] Die Bürgerinnen und Bürger wären dazu bereit. Und ich sage das deswegen, weil ich nicht von den einzelnen atomisierten Bürgerinnen und Bürgern spreche, sondern von denen, die in Kommunen leben, arbeiten und auch organisiert sind, politisch organisiert sind und denen man sehr viel mehr Mitspracherecht geben muss und sollte, um z.B. zu solchen Fragen wie Flüchtlingspolitik eine konstruktive Antwort zu finden.“
„Nur wenn die nationalen Regierungen den Bürgerinnen und Bürgern in den Kommunen mehr Mitbestimmung einräumen, wird die Europäische Union ihre Zukunftsaufgaben lösen. Bei ihnen liegen Energie, Engagement und Einfallsreichtum, die Europa dringend braucht.“
„Zugleich brauchen wir konkrete Antworten vor Ort und vor allem Möglichkeiten für Bürger*innen, sich wirksam mit ihren Kompetenzen zu beteiligen: demokratische Politik zum Anfassen“, so Gesine Schwan.
Nach Meinung von Klaus-Jürgen Scherer muss „Europa mehr denn je zum kulturellen Projekt werden. Nur wenn neben regionaler Verwurzelung und nationaler Prägung verstärkt europäische Identität der Einheit in der Vielfalt empfunden wird, werden Vertiefung und Solidarität notwendige Zustimmung bekommen“.
Es war ein spannender Abend mit Prof. Dr. Gesine Schwan und ihrem Gesprächspartner Dr. Klaus-Jürgen Scherer, der es geschafft hat, sie freundlich herauszufordern und die Zuhörerinnen und Zuhörer so an den Gedanken von Frau Schwan teilhaben zu lassen. Am Ende bleibt die Erkenntnis, dass Europa sich ändern muss und beide Gäste haben dargelegt, wie dies geschehen könnte.