Am 15. Juni 2022 fand unserer „Europäischer Mittagstisch in Brüssel“, als hybride Veranstaltung mit der ungarischen Europaabgeordneten Klára Dobrev und Dr. Susanne Drake, der Leiterin des Brüsseler Büros der Willi-Eichler-Akademie und Vorstandsmitglied von Solidar, statt.

Der Europäische Mittagstisch steht im Rahmen unseres (Willi-Eichler-Akademie) von der Bundeszentrale für politische Bildung geförderten Projektes „Transformation der Erinnerung – Erinnerung der Transformation“.

Im Rahmen unseres Projektes wollen wir der Frage nachgehen, wie die Entwicklungen nach den ungarischen Wahlen und angesichts des Krieges in Europa zu bewerten sind.

Durch die Öffnung der Grenze zu Österreich war Ungarn entscheidend dafür, dass der Mauerfall seinen Anfang nahm. Im Februar 1989 entschloss sich die ungarische Parteiführung den sogenannten „Eisernen Vorhang“ an der ungarisch-österreichischen Grenze langsam einzureißen. Diese symbolträchtige Entscheidung signalisierte eine außenpolitische Neuorientierung des Regimes und ermöglichte im August 1989 Hunderten von DDR-Bürgern, auf die österreichische Seite der Grenze und somit in die Freiheit zu gelangen. Der „Eiserne Vorhang“, der als Symbol des Kalten Krieges galt, verlor aufgrund dieser beherzten Entscheidung Ungarns seine Funktion.

Die Jahre danach waren dann entscheidend für das Entstehen einer pluralistischen politischen Ordnung. In Ungarn konnte, ähnlich wie in Polen, mit dem Ende des Kommunismus eine oppositionelle Partei die Wahlen gewinnen. Das konservative Ungarische-Demokratische Forum regierte bis 1994, um danach von den Sozialisten (die Nachfolgepartei der Kommunisten) abgelöst zu werden. 1998-2002 wurde erstmals Viktor Orban, Vorsitzender der Partei „Fidesz“ (Ungarischer Bürgerbund), Ministerpräsident. Unter Orban begann die Wandlung von Fidesz von einer liberalen zu einer nationalkonservativen Partei.

Die Invasion der Ukraine ist wieder ein neuer dramatischer Wendepunkt, der den Zustand Europas und der Welt prägen wird.

Die Zeiten sind unruhig, für viele von uns gar unübersichtlich. Eine Zäsur ist für das globale politische System zu erwarten. Häufig stellen wir Menschen uns die Zukunft eigentlich gerne als eine Weiterführung der Gegenwart vor.

Aber Putins Krieg stellt vieles infrage.

  • Wie ist das Verhalten Orbans gegenüber seinem Freund Putin zu beurteilen? Wie zuverlässig ist der NATO-Partner Ungarn?
  • Kann man sich darauf verlassen, dass Orban letztlich die europäischen Sanktionen gegen Russland mittragen wird?
  • Wie wird es jetzt mit Ungarn weitergehen?
  • Wie denkt die Zivilgesellschaft in Ungarn über die letzten Jahre?
  • Wie fühlen sich die Ungarn jetzt in Brüssel?

Diese Fragen haben wir mit der ungarischen Europaparlamentarierin Klara Dobrev diskutiert.

„1989 war ich ein Teenager vor dem Abitur und ich hatte ganz viel in meinem Kopf, wie das natürlich 17-jährige überall im Kopf haben. Aber trotzdem hatte jeder das Gefühl, dass wir jetzt an einem historischen Zeitpunkt sind. Und die ganze Schule, eigentlich alle, waren zusammen auf dem großen Platz in Budapest, auf dem großen Platz vor dem Parlament, wo die neue demokratische Republik geboren wurde, und alle haben gedacht, das ist das Ende der Geschichte und wir sind endlich eine Demokratie. Ungarn hat eine tausend-jährige Geschichte, wo wir zwischen Diktatur und Demokratie, zwischen Ost und West immer hin und hergegangen sind. Und endlich sind wir angekommen. Wir sind Mitglieder der europäischen Familie, auch wenn wir damals noch nicht der Europäischen Union angehörten. Aber wir sind Teil der europäischen Familie, wir haben eine Demokratie, eine liberale parlamentarische Demokratie. Von jetzt an sind wir glücklich und alles wird in Ordnung sein. Und ich glaube, das war, was alle geglaubt haben. Und natürlich, das Leben ist nie so einfach, wie wir damals gedacht haben“, so Klára Dobrev.

Die 90er Jahre galten ja als Zeit des Aufbruchs auch für die Europäische Union. Viel wurde in diesen Jahren entschieden. Entscheidende Schritte wurden getroffen, um die Zusammenarbeit der Europäischen Gemeinschaft in diesen Jahren zu vertiefen und dann eben auch zu erweitern. Wie hat sich Ungarn darauf vorbereitet? Welche zivilgesellschaftlichen Aktivitäten konnte man sehen? Welche Organisationen haben sich gegründet, die dann auch die politische Bildung der Bürger unterstützt haben?

Klara Dobrev führt weiter aus, dass dies besonders auf zwei Ebenen passierte: “Auf der einen Ebene ist die politische Ebene oder eben die außenpolitische Ebene. Dort war eine eindeutige absolute Unterstützung der europäischen Familie, dass uns der Weg nach Europa führt. Ob du ein Grüner warst, Sozialdemokrat, Konservativer oder Liberaler. Wir alle wollten nach Europa gehen. Da waren ganz kleine, wirklich marginale politische Parteien vielleicht, die nicht Europa gewählt haben, aber die große Mehrheit der Gesellschaft, die große Mehrheit der zivilen Organisationen, die Parteien waren eindeutig dabei. Wir gehören dorthin. Auf die andere Seite muss man auch darüber sprechen, dass die 90er Jahre, ein ökonomischer Schock für Ungarn waren, für Osteuropa und für viele Leute, dass die Sicherheit, die der Sozialismus gegeben hatte, …, denn jeder hatte seine Sicherheit. Und natürlich in dieser neuen Welt, alles war plötzlich unsicher …. Die Menschen dachten, dass wenn wir die Demokratie bekommen werden, wir auch ein Mitglied der europäischen Familie sein werden, und dann werden wir auch so leben wie im Westen Europas. (…) In den 90er Jahren hat es gleich angefangen, diese Enttäuschung, dass die Demokratie hat uns keine Sicherheit gebracht, kein Wachstum oder keine Leistung gebracht hat, sondern Unsicherheit und ein schwieriges Leben für viele Menschen. Und ich glaube, das war das allererste Moment, wo die Politik oder die Politiker sich nicht ganz gut gefühlt haben. …Der Traum, was wir zusammen als Ungarn oder als Rumänien, Bulgarien, Slowakei machen wollten.  Was ist aus diesem Traum geworden, den wir zusammen träumten und welche Antworten können wir darauf geben?“

Dann gab es auch einen massiven Einfluss von außen. Ich denke, unter anderem, an George Soros und die Universität in Budapest, da war eine ganz neue Generation von jungen demokratischen Menschen, die man mit einem weiten globalen Wissen hervorbringen wollte. Wie weit hat das, haben solche Investitionen die Zivilgesellschaft Ungarns auch geprägt?

„Natürlich gab es Soros und seine Spenden. … Aber da waren auch die Republikaner aus Amerika, aber auch aus Deutschland kam die Konrad-Adenauer-Stiftung und die Friedrich-Ebert-Stiftung, also viele politische und zivile Organisation, die angefangen haben zu arbeiten und angefangen heben viele Netzwerk-Beziehungen aufzubauen, in Europa zu lernen und zu verstehen wie diese neue Welt funktioniert. Deswegen, waren die 90er Jahre auch auf dieser Ebene ein sehr lebendig Zeit, auch die Anfänge der 2000 Jahre, sagen wir, bis zur großen Krise bis 2008. Es war ganz lebendig, ganz offen und sehr vielen Diskussionen, ein demokratisches Leben. Ich sage es noch mal, wir dachten wirklich, dass ist das Ende der Geschichte. Wir haben die Demokratie als ganz selbstverständlich genommen, ganz eindeutig: da ist die Demokratie und dann sind wir fertig. Jetzt müssen wir das nur ein bisschen besser machen“, so Klára Dobrev.

Susanne Drake sagt, „dass dies auch bei uns im Westen so war, man dachte, jetzt ist der Frieden ausgebrochen und wir brauchen auch keine Armeen mehr und es gibt keinen Eisernen Vorhang mehr. Der Kalte Krieg ist vorbei, dann sind alle Kriege vorbei. Auch wir haben uns dann sehr geändert. Geirrt?“

Dobrev darauf, „Ja, das muss ich sagen. Wir sprechen jetzt über Ungarn, aber das war auch im Rest von Osteuropa so. Dann muss ich sagen, mir passiert dasselbe. Das haben wir auch in den westlichen Ländern gesehen, da hält man die Demokratie für selbstverständlich und hat sie so genommen. … Wir dachten, das war die Normalität und niemand wird das ändern. Und deswegen haben wir die Institutionen nicht aufgebaut.“

„Und wir hatten auch keine Mittel, um unsere Demokratie irgendwie zu beschützen. Und ich glaube, dasselbe war, dass wir dachten, dass mit so klugen Kompromissen, auch wenn jemand in die andere Richtung geht, kommt er also früher oder später wieder zurück und alle die Kompromisse, die wir gemacht haben können hilfreich sein. Und jetzt spreche ich über Europa, nicht nur über Ungarn. Das waren Kompromisse, die ich glaube, wir immer an die erste Stelle die Ökonomie gestellt haben.“

Ich meine Kompromisse für gute ökonomische Bedingungen, für billige Energiepreise. … Und ich bin Politikerin. Also ich würde nicht gegen Kompromisse sprechen. Kompromisse sind ein wichtiges Fundament der Politik. Aber wenn wir zu viele Kompromisse mit unserem Werten machen, damit wir unsere ökonomischen Interessen irgendwie realisieren, also wenn wir zu viele Kompromisse dafür mit den Werten machen, dann fällt das auf uns zurück. Und ich glaube, jetzt, in diesem Moment bezahlt Europa den Preis für diesen Fehler, für die schlechten Kompromisse.“

Susanne Drake reagiert darauf: „Das wird Europa ja schon sehr lange vorgeworfen, dass es sich auf die ökonomische Zusammenarbeit fokussiert hat und leider nicht die Werte und Kultur in den Mittelpunkt gestellt hat. Und ich glaube, Sie haben vollkommen recht, jetzt zahlen wir alle dafür den Preis. Aber zurück zum Beitritt Ungarns: Es gab ja beim EU-Beitritt 2003 eine niedrige Wahlbeteiligung beim Referendum in Ungarn. Das Ergebnis war dann mit 80 % sehr gut. Die Fidesz-Anhänger hatten zwar dagegen gestimmt, aber waren letztlich mit dem Ausgang auch ganz zufrieden gewesen. Aber wie erklären Sie sich diesen mangelnden Enthusiasmus von den größeren Gruppen? Wer hat denn gewählt? Wer hat mitgespielt? In England hatten wir das Problem mit dem Brexit – da sind nur die alten Leute, die keine Einwanderer mochten zum Referendum gegangen, die jungen Leute sind dagegen nicht zu den Wahlurnen gegangen und hinterher haben sie sich erschrocken.

„Das war ein bisschen anders bei uns,“ erklärt Klara Dóbrev, „es haben nicht so viele Leute mitgestimmt, weil sie das Gefühl hatten, das ist doch so selbstverständlich, das ist so eindeutig. Also jeder will in der Europäischen Union sein, also natürlich gehen wir dorthin. … Auch jetzt, da die Regierung Orban, überall und jederzeit gegen Brüssel und gegen Europa spricht, auch jetzt ist eine riesengroße Mehrheit für unsere EU-Mitgliedschaft. Also ich glaube, dass diese Teilnehmerzahlen nicht wegen Enttäuschung oder wegen Unsicherheit so gering waren. Das war, weil das so ganz natürlich war, dass wir dahin gehören. Seit tausenden Jahren gehen wir in diese Richtung und einmal die Tataren, einmal die Osmanische Reich, die Russen, also immer jeder hat uns immer zurückgezogen, aber jetzt gehen wir endlich auf diesen Weg, wo wir hingehören.“

Susanne Drake fragt nach: „Aber was ist dann passiert bei den letzten Wahlen, wenn das so ist? Die Koalition der fortschrittlichen Parteien war sehr enttäuscht von dem Ausgang, weil alle gedacht haben das Volk möchte in der EU bleiben. Orban hat alles Mögliche gemacht, um eben dieses System der EU zu verwerfen. Also müssen die Leute das nächste Mal halt nicht mehr Orban wählen. Und das hat nicht geklappt. Was ist passiert?“

„Da müssen wir ein bisschen zurückgehen nach 2015. Die große ökonomische Krise. Die Leute hatten ganz viele Probleme in ihrem eigenen Leben. … Orban hat sich langsam aber sicher zu einem Diktator verwandelt in Ungarn. Seit 2010 gab es keine freien Wahlen seit 1998. Er hat die ganze Macht. Über die öffentliche Verwaltung, die ganze öffentliche Verwaltung. Ob es das Gesundheitswesen ist oder die Schulverwaltung oder sagen wir die allgemeine Versorgung, alles ist von der Partei beherrscht, die die Kampagne für Kommunikationszwecke benutzt. (…)Orban hat ganz viel gelernt von seinem Freund Putin und  2010 hat er mit den Gewerkschaften und zivilen Organisationen angefangen aufzuräumen.( …) Deswegen hat sich langsam aber sicher die private Gesellschaft, die private Ökonomie zurückgezogen von der Opposition und von den zivilen Organisationen. Aber das war nicht genug. So haben sie auch mit Polizeikräften die zivilen Akteure bedroht und irgendwie dafür gesorgt, damit sie keine politische Rolle spielen. Also langsam aber sicher.“ Klara Dobrev erklärt weiter: „Über 600.000 Leute sind aus Ungarn in den letzten zehn Jahren rausgegangen. Also wir sind ein Land von 10 Millionen Leute. Man kann sagen okay, das ist weniger als 10 %, aber die, die gehen, sind meistens zwischen 18 und 40 Jahre alt, und meistens sind das Leute, die bestens ausgebildet sind, die die Kraft und Agilität und Möglichkeiten haben, sich Auszudrücken, etwas zu verbessern. Ein großer Anteil, kann ich Ihnen sagen, 85 %, bin ich mir sicher, die sind eigentlich gegen Orban. Und so hat Orban auch ein Wahlrecht verankert damit diese Leute nicht einfach so abstimmen können, also ganz schwierig, damit sie an die Wahlen teilnehmen. Mit sehr viele kleinen, aber starken Bewegungen hat Orban alles getötet, was eine oppositionelle Gesellschaft, was eine starke Opposition in der Bevölkerung lebendig machte. Der gewählte Diktator hat das Gesetz für sich genutzt und so verändert,  dass die ganze Transformation des Landes, alle neuen Strukturen, machtlos wurden und die Energie der Demokratie zum Erliegen kam. Was konnten wir tun? Aber wir haben ja auch zugelassen, dass die Krim annektiert wurde. Wir haben vieles zugelassen in den letzten Jahren und wir erleben offensichtlich, dass mitten in Europa ein Diktator in der Lage ist, ein Volk als Geisel zu nehmen und damit zu machen, was er will und damit auch unsere ganze Politik glaubwürdig zu machen. Ohne Macht kommen wir da nicht heraus.

Dass die Oligarchen um Orban und die Verwandten von Orban so unwahrscheinlich reich geworden sind. Und jetzt diesen Reichtum für den politischen Einfluss benutzen.“

„Wenn ich positiv werden kann, da muss ich sagen, ich bin einverstanden mit der ganzen Philosophie und dem Konzept der europäischen Gesellschaft, für diese europäische Familie war nun nach dem Krieg, und klar, dass wir keine Konflikte mehr haben werden. Wir werden immer Kompromisse machen und werden, wenn wir unsere Interessen zusammenbringen, dann wird es keinen Krieg in Europa mehr geben. Und das war gegründet auf den Kompromiss, das war gegründet auf ein heimisch werden, das ist die Gemeinschaftlichkeit. Einstimmigkeit, ja, es war gegründet auf die Einstimmigkeit und ich muss ehrlich sagen, es war ein sehr, sehr erfolgreiches Projekt. Wir haben Blockfreiheit und wir haben keinen Krieg in Europa seit mehr als 70 Jahren. Aber genau deswegen sind wir auch eingeschlafen. Wir sind eingeschlafen und wir haben gedacht, dass es nicht anders sein kann und deswegen sind wir eingeschlafen und wir haben schon darüber gesprochen, dass wir mit diesen vielen Kompromissen die Augen zu gemacht haben vor einem Diktator, vor einem gewählten Diktator, der geworden ist wie Putin. Und ein Diktator früher oder später ist immer ein Aggressor und wir haben uns auch bei der ersten Aggression auf der Krim eingeschlossen und das heißt auch, wir müssen aufwachen. Und ich glaube, Europa hat die Macht, aber das wird uns sehr viel kosten, das wird wehtun. Aber wenn wir das nicht machen, dann wird das Problem immer größer werden“, führt Klára Dobrev ausführlich aus.

„Was Sie sagen, weckt in mir einen furchtbaren Verdacht. Deutschland war in dieser Entwicklung offensichtlich keine sehr positive Ausnahme. Denn als stärkste Wirtschaft der EU hat Deutschland auch ganz besonders in unserer Politik der letzten 16 Jahre auf Kompromisse und gute Verträge gesetzt, die zwar in unserem ökonomischen Interesse waren, aber nicht in der Realität. Ich sage nur Verträge mit der Türkei in Bezug auf Geflüchtete, Verträge über Gaslieferungen. Ich fürchte, wir haben da keine gute Rolle gespielt“, fragt Susanne Drake weiter.

„Auf einer Seite scheint dies sehr verständlich nach dem Zweiten Weltkrieg zu sein, dass Deutschland  seine politische Macht benutzt hat. Und wenn ich das positiv formulieren würde, dann würde ich sagen, dass die politische, dass die deutsche Außenpolitik sehr pragmatisch war und lange hat das auch funktioniert und die größte Gefahr ist, und in diese Falle sind die Deutschen und auch wir und alle gefallen. Um den Punkt zu finden, wo Pragmatismus größere Probleme macht, dass der Preis, den wir für den Pragmatismus zahlen,  größer sein wird, als was wir ökonomisch bekommen könnten. Also die billige Energie, das ist eine sehr pragmatische Entscheidung. Und ich bin mir sicher, dass wenn man die Leute fragt, wenn man Deutsche oder Ungarn fragt, wollt ihr billige Energie haben, dann werden alle ja sagen Aber um ein großer Politiker zu werden, muss man auch sehen, was sind die anderen Preise, die wir für die billige Energie bezahlen. Vielleicht zahlen wir jetzt weniger, aber später, in zwei Jahren, fünf oder zehn Jahren, dann werden wir zehnmal so viel bezahlen. Und das ist passiert, genau jetzt und natürlich in der Politik. … Also das ist eine kurzfristige Politik, man muss immer ganz schnell irgendwas zeigen. Aber um ein großer Politiker zu werden, muss man doch einen Ausblick auf die nächsten 20 Jahre haben. Wir lernen immer dann, wenn es uns wehtut. Das sehen wir bei der Klimakatastrophe auch. Es muss wehtun, damit wir irgendwas machen. Jetzt tut es weh. Darum müssen wir es jetzt verstehen: dass die Demokratie, die parlamentarische Demokratie keine Alternative hat. … Die Rechtsstaatlichkeit, Konditionalität, alles, was in Europa auf dem Tisch ist und jetzt gegen die ungarische Regierung benutzt wurde. Ich glaube, das ist ganz wichtig, man soll keine Oligarchen finanzieren und wir sollen auch in unseren Außenbeziehungen und ökonomischen Beziehungen mindestens nach zehn Jahre voraussehen und keine Diktatoren unterstützen. Wie ich gesagt habe, Geschichte hat uns gelehrt, Diktatoren werden früher oder später, wenn sie die Möglichkeit haben, Aggressoren.“

„Aber wenn die EU den Druck weiter aufrecht erhält, auf Orban, und alle Mittel anwendet, um seine Art zu handeln zu bestrafen“, so Drake. „Dann reicht das ja doch wohl nicht. Die ungarischen demokratischen Politiker*innen müssen weiter versuchen das Volk zu erreichen, obwohl sie keinen Zugang zu den Medien haben, also zu den traditionellen Medien haben. Was jetzt in dieser Frage die Rolle des Ukraine-Krieges sein wird, wage ich mir kaum vorzustellen. Das macht es ja nun auch nicht leichter.“

Dobrev sagt, dass dieser Krieg wirklich gezeigt hat oder zeigt, wo Orban steht. „Manchmal ist es ganz gut, dass die Sachen endlich schwarz und weiß sind. Ja, weil man kann immer diskutieren, wo ist der Übergang zwischen schwarz und weiß, ob es hellgrau, dunkelgrau der oder leicht grau ist. Aber jetzt sind die Sachen schwarz und weiß und man muss wirklich ganz dumm sein, nicht zu sehen, wie sehr Orban in fast allen Fragen Putin unterstützt. Als Mitglied der EU und wenn er auch sehr gebückt ist, dann hat er den Sanktionen im letzten Moment zugestimmt. Aber immer im letzten Moment und immer hat er alles versucht um diese Sanktionen auszuhebeln.“

Die ungarische Regierung trifft keine Entscheidung nimmt das Anti-Korruptions-Programm nicht an. „Das wäre so einfach und das würde das Leben in Ungarn und für uns heute viel einfacher machen. Aber Orban kann das nicht, …, weil das der stärkste Punkt seiner Macht ist. Die Korruption ist eigentlich der Unterschied zwischen Polen und Ungarn. Wir sind zwei Länder, gegen den wir die Rechtsstaatlichkeitsmaßnahmen und die Rechtsstaatlichkeitsprozesse sehen. Und mit Polen haben wir ganz viele Probleme mit den zivilen Organisationen. Aber in Polen ist das ganze System nicht auf Korruption gegründet. Aber in Ungarn ist die ganze Orban-Regierung auf Korruption gegründet. Deswegen glaube ich, dass Europa dieses Mal (und auch Deutschland) keine Kompromisse machen soll“ endet Klára Dobrev.

„Das, so hoffe ich“, so Susanne Drake, „fällt in die richtigen Ohren. Ich hoffe, man hat uns gut zugehört. Es war ein hochinteressantes Gespräch mit klaren Worten. Ich danke Ihnen ganz herzlich für die Offenheit. Ich wünsche Ihnen sehr viel Energie, die Sie brauchen werden! Danke schön für Sie und alles Gute für Ungarn und für uns alle, die wir dieses gemeinsame europäische Haus geworden sind und erhalten wollen.“

Nachhören lässt sich der Europäische Mittagstisch in unserem Video.