Robert Misik im Gespräch mit Philipp Ther.
Am 22. Februar 2023 fand unser „Europäischen Salon“ in Kooperation der Willi-Eichler-Akademie und Bruno-Kreisky-Forum im Rahmen des Projektes „Transformation der Erinnerung – Transformation der Aufarbeitung“ in Wien mit Robert Misik, Autor und Journalist und mit dem Historiker, Osteuropa-Experten und Wittgenstein-Preisträger Philipp Ther statt.
In den zentral- und osteuropäischen Ländern setzte um 1989 ff eine Systemtransformation ein. Diese Transformationen durchzogen die Länder des östlichen Europas und ebenso die Länder des Westens. Die Transformationen von Ost und West hätten sich jedoch in dem zentralen Punkt des Framings unterschieden: die östlichen Länder müssten an die westlichen angeglichen werden, müssten sich einer Modernisierung unterziehen.
Nach der Begrüßung und kurzen Einleitung von Stefan Stader, dem Berliner Büroleiter der Willi-Eichler-Akademie, gingen beide Panelisten in den Dialog, mit der einleitenden Frage nach dem Rollenverständnis Russlands und der Ukraine. Den Dialog eröffnete Philipp Ther mit einer historischen Einordnung der Begrifflichkeiten des Imperialismus und Kolonialismus. In seiner Analyse sprach Ther von der (neo-)imperialistischen Macht Russland, die stärker als zentrales Kernproblem in der Debatte um den Angriffskrieg aufgefasst werden müsse.
Wandel durch Handel – eine idealisierte Vorstellung?
Die beiden Podiumsdiskutanten sprachen in diesem Zusammenhang das Prinzip des Wandels durch Handel an. Konsens war, dass dieses Prinzip hier erfolglos blieb. Misik betonte allerdings, die Praktik des Handelns als diplomatische Beziehung nicht generell zu verurteilen. Europa sei als Wirtschaftsmacht nicht zu unterschätzen. Die europäischen Bündnispartner bilden gegenüber Russland eine Großmacht, so Ther. Aufgrund ihrer gesamten, über die Staaten hinweg gezählten Einwohner:innenzahl sei Europa ein starkes Gegengewicht in der politischen Welt.
Transformation der Erinnerung in Osteuropa
Misik sprach von einer Verschiebung des „Gravitationszentrums der Wahrnehmung“ Richtung Osteuropa. Aufbauend auf dieser These diskutierten Robert Misik und Philipp Ther die Transformation der Erinnerung in Osteuropa und der DDR.
Ther sprach davon, dass es mitunter auch 2008/2009 mit der globalen Finanzkrise einen Bruch gegeben habe. Eine Anpassung an den, wie Ther es ausdrückte, „imaginierten Westen“ wäre nicht gelungen und damit käme die Frage nach der Transformation der Erinnerung auf. Ther gab ein praktisches Beispiel von polnischen Jugendlichen, die 2009 über ihre Erfahrungen mit der Transformation aus den 1990er Jahren befragt wurden. Die Befragung, ergab laut Ther, dass die Jugendlichen den Konsumzuwachs und eine Art Wohlstandszuwachs als ein Kernmerkmal der Transformation angaben. Zeitgleich aber Jobverluste der Eltern oder weites Pendeln auch Teil dieser Erinnerungen wären. Das Ergebnis der Befragung zeige, dass die tatsächlich gemachten Transformationserfahrungen vom Erfolgsnarrativ abwichen. Eben trotz der statistischen Belege, dass es für zwei Drittel der Menschen durchaus einen enormen Aufholprozess gegeben hatte, so Ther. Für diejenigen, die also nicht von der Transformation profitierten, für diejenigen hätte die Transformationserfahrungen entwurzelnd gewirkt. Diese Erfahrungen hätten in Polen einen Nährboden für den Aufstieg des Rechtspopulismus geboten.
Die Transformation im Westen – ein Strukturwandel
In der Diskussion wurde zudem hervorgehoben, dass es auch eine Transformation im westlichen Gebiet gegeben hatte. Diese Transformation hätte aber unter dem Namen des Strukturwandels stattgefunden. Diese beiden Formen der Transformation seien, laut Ther, durchaus vergleichbar. Allerdings mit dem Unterschied, dass es im Westen staatliche Flankierungen gab, in andere Industriekerne umgeschult wurde und die Betriebe noch Eigenkapital hatten. Die Länder, die den Strukturwandel nicht abfedern konnten, die hätten ähnliche soziale Folgen erlebt und eine Perspektivlosigkeit für die nachkommenden Generationen setze ein. Perspektivlosigkeiten und große sozioökonomische Probleme seien effektiver Nährboden für politische Bewegungen. Hierfür zeigte Ther unter anderem Beispiele, wie vorher schon erwähnt Polen, den Brexit und Trump, auf. Diese populistische Wende sei also in gewisser Weise als eine Art Kausalität zu verstehen.
Zum Ende der Veranstaltung kamen die beiden Diskutanten noch einmal auf die Ausgangsfrage nach dem russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zurück:
Die Rolle der EU – die europäische Herausforderung der neuen Zeit
Misik stellte die These auf, die EU hätte das Potenzial, eine politische, wie auch moralische Weltmacht zu bilden. Der russische Angriffskrieg zeige in verschiedensten Dimensionen auf, dass immer mehr Nationen, wie z.B. die Ukraine, Moldavien, der Westbalkan etc. mit Nachdruck versuchen würden EU-Mitgliedsstaaten zu werden. Ther begrüßte diese Entwicklung einerseits, kritisiert im gleichen Zug jedoch, die verspätete europäische Reaktion. Die EU sei im konstitutionellen Engpass gefangen. Hier führte der Historiker das Einstimmigkeitsprinzip beispielhaft an. Es brauche strukturelle Reformen der EU, damit sie als Institution wachsen könne. Ther lobte dennoch die EU-Erweiterung als einen mutigen, großen Schritt trotz der strukturellen Defizite.
Der Historiker referenzierte auf gute Erfahrungen mit der Institution EU, warnt aber auch vor einem Richtungswechsel der Weltpolitik mit Blick auf die kommenden Präsidentschaftswahlen in den USA. Die EU müsse sich darauf intensiv vorbereiten.
Auf die wichtige Frage, wie es um einen Beitritt der Ukraine in die EU steht, antwortete Ther mit mäßigem Optimismus. Die aktuellen Beitrittsregularien würden es der Ukraine nicht leicht machen. Generell müsse sich die EU mit der Frage der Mitgliedschaft verstärkt auseinandersetzen. Ther führt erste Überlegungen dazu aus. Vorstellbar seien Zwischenschritte bis zur Vollmitgliedschaft, die die Zusammenarbeit der Länder zu Beginn in einzelnen Teilen möglich machen. Dies wären zumindest anfängliche Gedanken, die die europäische Zusammenarbeit erleichtern würden.
Das Gespräch im Europäischen Salon in Wien zeigte nochmals deutlich, die Krise(n) des „Neuen Europa“ sind vielfältig und historisch tief verwurzelt. Die Invasion Russlands in die Ukraine macht die Spannungen unübersehbar, die zu lange ignoriert wurden. Aus dem Gespräch lässt sich ableiten, ganz neu müssen wir auf die politische Geografie des „Neuen Europa“ nicht blicken. Die Anzeichen waren da, nun muss es gelingen Tendenzen zur Ignoranz abzulegen und die Blickwinkel zu wechseln.
Eine Veranstaltung der Willi-Eichler-Akademie e.V. in Zusammenarbeit mit der Bruno-Kreisky-Forum.