Lesung mit Sabine Michel und Dörte Grimm
Am 13. Oktober fand in der Europäischen Akademie Berlin die Lesung der Autorinnen Sabine Michel und Dörte Grimm statt. Es wurden Ausschnitte aus ihren Dokumentarfilmen „Zonenmädchen“ und „Die Unberatenen” gezeigt. Moderiert wurde der Abend von Dr. Christian Johann.
- Sabine Michel, geboren 1971 in Dresden, ging 1990 – mit dem letzten Ost-Abitur – nach Paris und studierte später Filmregie in Potsdam / Babelsberg. Ihr Kurzfilm »Hinten scheißt die Ente« führte als Publikumserfolg 2005 zu ihrem ersten Langspielfilm »Nimm dir dein Leben«. Seitdem arbeitet die Adolf-Grimme-Preisträgerin für Kino und Fernsehen und am Theater.
- Sabine Michel, geboren 1978 in Pritzwalk, studierte Publizistik, Geschichte und Ethnologie in Berlin. Seit 2008 arbeitet sie als Autorin und Filmemacherin. Sie schreibt Kinderbücher, dreht Dokumentarfilme und arbeitet für das Fernsehen. Seit 2015 engagiert sie sich im Verein Perspektive hoch drei / Dritte Generation Ostdeutschland.
Die Veränderungen nach dem Ende der DDR waren gravierend. Ein politisches System brach ein und riss selbstverständlich geglaubte Sicherheiten mit sich. Welche Auswirkungen das im politischen Bereich hatte, wurde umfänglich untersucht. Der Frage, wie Familien diese Zeit wahrgenommen haben und welche Auswirkungen der politische und wirtschaftliche Umbruch auf die Menschen hatte, sind die beiden Filmemacherinnen Sabine Michel und Dörte Grimm nachgegangen.
Im Rahmen des Projektes „Transformation der Erinnerung – Transformation der Aufarbeitung“ lasen die Autorinnen aus ihrem Gesprächsband „Die anderen Leben. Generationengespräche Ost”, für den sie zehn Gespräche zwischen ostdeutschen Eltern und deren Kindern, die ihre Jugend bereits in einem vereinigten Deutschland erlebten, dokumentiert haben.
Sabine Michel berichtete, wie sie und Dörte Grimm sich kennengelernt haben. Während der Dreharbeiten zu ihrem Dokumentarfilm „Zonenmädchen“ wollte sie ihre Schulfreundinnen mit deren Eltern zusammen interviewen, was sich als sehr schwierig herausstellte: „Im Film gab es schließlich nur zwei von insgesamt fünf Müttern, die sich bereiterklärten, mit ihren Töchtern vor der Kamera zu reden. Bis dahin dachte ich, das ist Zufall. Aber dann war ich mit dem Film in den Kinos unterwegs und da saßen entweder Mütter oder die erwachsenen Kinder, die mir viele Fragen stellten, die in ihren Familien nicht besprochen wurden. So entstand die Idee, Gespräche zwischen den Generationen zu führen.“ Als Sabine Michel merkte, dass Dörte Grimm sich im selben Themenfeld engagierte, nahm sie Kontakt zu ihr auf und die beiden beschlossen, für den Gesprächsband zusammen zu arbeiten.
Moderator Johann fragte: „Ich habe im Buch das Zitat gelesen In ihrem Schweigen wächst die Wut. Da geht es um das Nicht-reden-können und um die Frage, wie es in Menschen gärt, die vielleicht nicht gehört werden oder die niemanden haben, mit dem sie reden können.“
Sabine Michel und Dörte Grimm erzählten von ihren Begegnungen mit den Menschen der älteren ostdeutschen Generationen. Über die 90er Jahre mit ihren massiven gesellschaftlichen Veränderungen und dem Schweigen, das in dieser Generation in dieser Zeit erwuchs. Von den ostdeutschen Frauen, die weggingen. Über den westdeutschen Umgang mit ostdeutscher Geschichte, dem fehlenden Diskurs innerhalb Ostdeutschlands, der dadurch erschwert wurde und sich heute in den Wahlergebnissen widerspiegelt. Sie berichteten von Entwertungs- und Schuldgefühlen und steigender Demokratieskepsis.
Dörte Grimm: „Auf westdeutscher Seite war die Demokratiebildung mit einem Aufstieg, einem Wirtschaftswunder verbunden, aber in Ostdeutschland mit dem Niedergang des wirtschaftlichen Systems. Von 12.000 ehemaligen DDR-Betrieben wurden 4000 abgewickelt und geschlossen. Der Rest überstand kaum die 90er Jahre. Bis 1995 hatte jede(r) zweite Ostdeutsche den Beruf schon einmal gewechselt. Das sind große soziologische Zahlen. Diese Erinnerung ist in die ostdeutsche Gesellschaft eingeschrieben.“
Die Autorinnen wünschen sich perspektivisch für die Menschen ostdeutscher Prägung, dass sie selbstbewusster auf die Zeit von 1989/90 schauen, dass sie die Friedliche Revolution und die Transformation der 90er Jahre als Errungenschaft anerkennen. Eine Erfahrung, deren positive Bewältigung ermutigend für die junge Generation sein kann, die sich ebenso großen globalen Krisen gegenübersieht.
Ein spannender Abend mit einem großen Dank an Sabine Michel und Dörte Grimm.
„Die anderen Leben. Generationengespräche Ost“ – von Sabine Michel & Dörte Grimm, Bebra Verlag 2020.
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