Am 30. Juni 2022 fand im ZeitGeist Braunsfeld e.V. Kulturraum in Köln eine Lesung mit anschließender Diskussion zum Buch „7 Mythen über Europa. Plädoyer für ein vorsichtiges Europa” des niederländischen Politik- und Kulturhistorikers René Cuperus statt. Cuperus ist Senior Research Fellow am internationalen ‘Instituut Clingendael‘ (Den Haag), Mitglied des Beirats für Europäische Integration und Internationale Politik der niederländischen Regierung. Moderiert wurde der Abend von Siebo M. H. Janssen, Politikwissenschaftler, Historiker und Europa-Experte.

Wie gehen wir in Europa mit dem Problem “Einheit und Verschiedenheit” um?

Das war schon zwischen den beiden großen Begründern der europäischen Zusammenarbeit, Frankreich und Deutschland, eine schwierige, oft unausgesprochene Frage. Dennoch haben sie sich auf Kernprinzipien der europäischen Zusammenarbeiteinigen können.

In einer EU mit 27 Mitgliedsstaaten ist das Finden von Kompromissen zu einem immer komplizierteren Problem geworden. Wie schafft man es, dass sich Skandinavien und der Balkan, Zypern und Irland bei Fragen, die sich um überschneidende europäische Werte und Normen drehen, einig sind?



Im Vergleich zu den wirklichen Supermächten, China und den USA, weicht Europa in diesem Punkt, mit allen Vorbehalten, die dazu gehören, ab. Europa mag vielleicht aufgrund seiner Uneinigkeit geopolitisch oft nicht in der Lage sein, auch nur eine kleine Veränderung durchzusetzen, doch was die beinahe ideale Mischung aus sozialen und politischen Grundrechten angeht, die viele europäische Staaten geschaffen haben, verhält es sich anders.

Die meisten Mitgliedsstaaten der Europäischen Union haben sich, gezeichnet durch die Narben ihrer tragischen Geschichte im 20. Jahrhundert, zu liberalen Rechts- und solidarischen Wohlfahrtsstaaten entwickelt. In ihnen wurden die Werte Gleichheit, Freiheit sowie Respekt vor Minderheiten und dem Individuum so gut wie möglich ins Gleichgewicht gebracht. Und diese Werte sind es auch, die in den Europäischen Verträgen eine zentrale Rolle spielen.

Bilden die Europäer also ein “demos”, wenn man ihre identischen Errungenschaften an sozialen Rechten in den Blick nimmt? Könnte man Europa im Vergleich zu China und den USA als real existierende “soziale” Demokratien bezeichnen, in denen die sozialen und politischen Grundrechte bis zu einem gewissen Maß ein Korrektiv zum globalen Kapitalismus und zum autoritären politischen Modell darstellen?

Dieses Buch liefert eine realistische Einschätzung der Stärken und Schwächen der EU und fordert: Die europäische Zusammenarbeit muss neu gestaltet werden! Es kommt auf die richtige Balance zwischen der EU und ihren nationalen Demokratien an.

Angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine wirkt die Europäische Union auf den ersten Blick heute einiger als zuvor. Ihre inneren Widersprüche und Probleme bestehen aber nach wie vor, und nichts deutet darauf hin, dass sie durch den Krieg verschwinden werden. Die deutsche Politik ist deshalb gut beraten, wenn sie mit ihren Selbsttäuschungen auf dem Feld der Europapolitik ebenso kritisch ins Gericht geht wie mit ihren Illusionen in Sachen Russland und äußere Sicherheit ganz allgemein. Die Lektüre von Cuperus könnte hierbei hilfreich sein. Sein Buch hat durch den Ukraine-Krieg jedenfalls nichts von seiner Aktualität verloren.“ Heinrich August Winkler in der ZEIT 17/2022

Cuperus machte in seinen einführenden Ausführungen einerseits deutlich, dass Europa, der europäische Integrationsprozess für ihn etwas „Heiliges“ sei. Dieses „Heilige“ ergibt sich für Cuperus aus der Erfahrung zweier Weltkriege und den Verbrechen des Nationalsozialismus. Auf diese Erfahrungen war und ist die europäische Integration die einzige logische Antwort.

So sehr Cuperus einerseits die historische und politische Notwendigkeit der EU anerkennt, so skeptisch ist er jedoch in Bezug auf die reale Gegenwart der EU. Er kritisiert nicht nur die, seiner Ansicht nach, wachsende Kluft zwischen den nationalen Bevölkerungen und den (europäischen) Eliten, sondern sieht das gesamte Konzept der „ever closer union“ (vertiefte EU) skeptisch. Cuperus deutet die wachsende Ablehnung der EU als Absage an eine immer engere Union, das heißt an eine föderal organisierte EU.

Er sieht die EU vor allem als zukünftigen außenpolitischen Akteur. Der Schock des Angriffs Russlands auf die Ukraine hat den Westen wieder zusammengebunden, die Notwendigkeit einer einheitlichen westlichen Politik vor Augen geführt und aufgezeigt, dass die EU eine Stärkung ihrer Außen- und Sicherheitspolitik braucht.

Ein großes Fragezeichen setzte Cuperus bei der Rolle Deutschlands. Ist Deutschland bereit in der EU und global Führungsverantwortung zu übernehmen? Und welche Ideale stehen für die EU zukünftig im Vordergrund? Die geopolitischen Interessen oder die gemeinsamen Werte der liberalen Demokratie? Wie krisenfähig ist diese liberale Demokratie überhaupt noch, fragte er sich in einem weiteren Exkurs.

Deutlich wurde seine klare Trennlinie mit der Forderung nach einer starken EU nach außen und einer vorsichtigen EU nach innen.

Dort wo es um Fragen der gemeinsamen Sozial-, Finanz-, Steuerpolitik geht, da sieht Cuperus deutlich die Vorzüge des Nationalstaats und vertritt die Auffassung, dass die EU in diesen Politikfeldern nicht an die Stelle der einzelnen Mitgliedsländer treten sollte, ja, nicht einmal über Grundkompetenzen verfügen sollte.

In der anschließenden Diskussion fragte Moderator Siebo M. H. Janssen Cuperus als erstes ob der Autor nicht einen Grundwiderspruch zwischen einer starken EU nach außen und einer schwachen/bescheidenen EU nach innen sieht. Zumal die Abgabe außen- und sicherheitspolitischer Kompetenzen an den Grundpfeilern staatlicher Existenz rüttelt, ist doch gerade die Staatsgewalt Kernbestand jeglicher Staatlichkeit (Thomas Hobbes/Georg Jellinek). Cuperus beantwortete diese Frage mit der Annahme, dass die Bevölkerungen der EU-Mitgliedsstaaten eher bereit wären in eine gemeinsame Verteidigungspolitik als in eine gemeinsame Sozialpolitik zu investieren. Auf Janssens Einwurf, dass eine so fundamentale Frage wie Souveränitätsübertragung in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik schwer vorstellbar wäre, entgegnete er, dass gerade die Frage nach einer gemeinsamen Sozialpolitik die Bevölkerungen der EU spalte, weil es eben keine gemeinsame Solidaritätserfahrung gäbe.

In der folgenden Diskussion wurden einzelne Aspekte von Cuperus Vortrag herausgegriffen. Immer wieder ging es auch um das solidarische Europa – also eine EU, die eine umfassende Solidargemeinschaft darstellt. Dies sieht er in vielen Bereichen kritisch und möchte auch in Fragen der Nachhaltigkeit, des Klimaschutz usw. eher eine zurückhaltende EU.

Für Cuperus ist die Antwort auf die zahlreichen politischen Krisen in den Mitgliedsstaaten der EU, er sprach von Systemkrisen, nicht ein europäischer, föderalisierter Bundesstaat, sondern vielmehr ein Europa mit vielen Nationalstaaten, die gewachsen sind und sich bewährt haben. Unabhängig von seiner intellektuellen Position sieht Cuperus die Abschaffung der Nationalstaaten als „unmöglich“ an, da sie Grundlage staatlicher und gesellschaftlicher Entwicklung waren und sind.

Abschließend machte er noch einmal deutlich, dass die große Stärke der EU für ihn darin liege, dass diese demokratisch verfasst sei und zugleich aus souveränen Mitgliedsstaaten bestehe. Diese Einheit in Vielheit macht die EU zu einer festen Burg gegen Autoritarismus und Nationalismus. Jeder Versuch die EU zu einem föderalen „Einheitsstaat“ zu machen ist dann, laut Cuperus, auch zum Scheitern verurteilt und hätte für die Mitgliedsstaaten wie die EU selbst negative Konsequenzen.

Am Ende des Abends stand eine lebhafte und engagierte Diskussion. Die aktuellen Fragen und Herausforderungen der EU, aber auch mögliche zukünftigen Entwicklungsperspektiven wurden kenntnisreich und engagiert diskutiert und es ist zu wünschen, dass diese Veranstaltung im Vorfeld der EP-Wahlen 2024 eine Fortsetzung findet.

Wir danken René Cuperus, Siebo M. H. Janssen und dem Publikum für einen informativen und bereichernden Abend.

Moderation:
Siebo M. H. Janssen, Politikwissenschaftler, Historiker und Europa-Experte, lebt in Bonn und arbeitet als Lehrbeauftragter an deutschen und internationalen Universitäten und Fachhochschulen sowie als politischer Erwachsenenbildner.

In Zusammenarbeit ZeitGeist Braunsfeld e.V. Kulturraum und der Veranstaltungsreihe „IM GESPRÄCH“. Eine Veranstaltungsreihe von Gabriele Klinski und Knut Pries.

ZeitGeist Braunsfeld e.V.


Den Vortrag können Sie hier als PDF herunterladen


“7 Mythen über Europa”: Stark nach außen, sanft nach innen.
Der niederländische Autor René Cuperus wendet sich gegen eine Mythisierung Europas.
Eine Rezension von Heinrich August Winkler
20. April 2022

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